Kolumne Alles auf Agilität - oder was?

Von Prof. Dr. Susanne Knorre, Knorre Consulting
Die Crux mit der Agilität fängt nämlich damit an, dass der Kanon der Organisations- und Führungsmerkmale, die Agilität ausmachen, ständig wächst. Das macht es schwierig, die Wirkungen beziehungsweise Erfolge empirisch zu überprüfen. Wir reden deshalb vor allem über Plausibilitäten, weniger über Kausalitäten. Was ganz praktisch zu beobachten ist, sind vor allem die Wirkungen, die mit der Einführung agiler Methoden beziehungsweise mit der Integration agil arbeitender Teams in eine größere Organisation verbunden sind. Das ist aber theoretisch wie praktisch nur ein kleiner Ausschnitt aus dem gesamten Konstrukt Agilität. Deshalb lohnt es sich, ein paar einfache Wahrheiten aus der Beobachtung der Unternehmenspraxis auszusprechen, um die Diskussion zu erden:
- Die Schnittstelle zwischen Mensch und digitalen Prozessen bleibt (selbst bei zunehmend automatisierten Entscheidungen) die große Unbekannte. Viele Gesichtspunkte in den einschlägigen Agilitätskonzepten sind stark normativ behaftet, um nicht zu sagen belastet. So hört es sich super an, wenn über hierarchiefreie Kollaboration mittels sozialer Software berichtet wird – aber zur Beobachtung gehört auch, dass Wissen weiter Macht ist und sich nicht automatisch wertschöpfende Kollaborationen unter Mitarbeitern und Teams ergeben, nur weil entsprechende Softwaretools bereitgestellt wurden. Sprich: Kein Organisationsmitglied wird einfach so zu einem altruistischen Teamplayer im Dienste einer besseren (Unternehmens-)welt. Das erfordert andere Wertorientierungen, andere Deutungsangebote, anderes individuelles Verhalten. Wir reden von einem Kulturwandel, der braucht auf jeden Fall Zeit und Geld, gelingt manchmal, aber nicht immer.
- Wer hierarchische Gefüge auflöst zugunsten heterarischer Organisationsformen, vulgo Netzwerken, der braucht zugleich andere Koordinationsmechanismen zwischen vielen autonomem, aber eher instabilen Einheiten sowie neue Instrumente der Steuerung, Ergebnis- und Qualitätssicherung. Sprich: selbst das agilste Unternehmen birgt die Tendenz zur Bürokratisierung weiter in sich. Im Zuge der weiteren Digitalisierung wird sich erst noch herausstellen, ob solche Steuerungs- und Koordinierungsaufgaben tatsächlich ohne zusätzliche, nicht erwünschte Bürokratisierungseffekte auskommen. Welche neuen Schnittstellen entstehen zwischen Menschen und digitalen Prozessen? Wer steuert dann die Steuerung? Wer ist rechtlich verantwortlich? Stabile Hierarchien haben eben auch etwas Entlastendes.
- In Abwandlung eines bekannten Zitates von Peter Kruse: Wer vollständig agil ist, der wird psychotisch. Schnelle Richtungswechsel, immer wieder Strategien verwerfen und neu anfangen – das hält selbst der coolste Typ auf der Vorstandsetage nicht aus. Höchstens ein paar der wenigen Frauen. Im Ernst: Menschen lassen sich so nicht führen. Ohne stabile Orientierungspunkte, ohne Werte und verlässliche Normen, ohne Sinn und Vorbilder, ohne Routinen und eine akzeptierte Fehlerkultur lassen sich selbst die agilsten Unternehmen nicht führen – wenn sie sich nicht komplett auflösen wollen. Deshalb fordert Netflix seine weitgehend in heterarchischen Strukturen arbeitenden Mitarbeitenden auf, 128 Charts mit firmeninternen Richtlinien für eine Freiheits- und Verantwortungskultur zu verinnerlichen! Wie war das mit dem "ehernen Gesetz der Bürokratisierung"? Siehe oben!
- Agile Führungskonzepte und -methoden machen das Managerleben nicht einfacher, sondern es wird alles in allem komplexer, ja sogar viel komplexer. Das liegt nicht zuletzt an dem oben beschriebenen Nebeneinander aller möglichen Führungs- und Organisationsformen. Strenge Hierarchien und hierarchieübergreifende Kollaboration, virtuelle und reale Netzwerke, offene und standardisierte Prozesse, personenzentrierte und vertrauensbasierte Führung – alles existiert nebeneinander und durcheinander unter einem Dach. Agilitätskonzepte ergänzen das typische plangesteuerte Management, ersetzen es aber nicht. Und beides zu verbinden, kommt häufig der Quadratur des Kreises gleich. Nein, einfacher wird es nicht und als Blaupause taugen die bisherigen Modelle kaum.
Die Diskussion um ein neues, kommunikationsbasiertes Handlungs- beziehungsweise Führungskonzept für agile Organisationen [1] steht erst am Anfang.
[1] Buchholz, Ulrike und Susanne Knorre (2017): Interne Kommunikation in agilen Unternehmen,. Eine Einführung, Springer essentials, URL: http://www.springer.com/de/book/9783658169763
Zur Person:

Prof. Dr. Susanne Knorre arbeitet seit mehr als 12 Jahren als selbständige Unternehmensberaterin mit den Schwerpunkten Strategieentwicklung, Change Management und Organisationskommunikation. Seit 2007 ist sie nebenberufliche Professorin an der Hochschule Osnabrück. Susanne Knorre verfügt über langjährige Führungserfahrung in Wirtschaft und Politik. Von 2000 bis 2003 war sie Wirtschaftsministerin in Niedersachsen. Sie ist Mitglied in Aufsichtsräten namhafter deutscher Unternehmen.
www.knorre-consulting.com
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