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Consulting im Style-Check – Kolumne von Wolfram Saathoff Beratungswebsites sehen aus, als hätte man zweihundert Radios gleichzeitig voll aufgedreht

Wer schreit hat Unrecht! (Bild: Haus am Meer, Smashicons)

Wer schreit hat Unrecht! (Bild: Haus am Meer, Smashicons)
Die Sache mit den Tennisbällen, Multitasking und der Informationshierarchie
Als ich noch ein kleiner Grafiker von sechs, vielleicht sieben Jahren war, nahm mich meine Mutter, eine kluge Frau, eines sonnigen Tages zur Seite und sagte:
Wenn du einem Menschen einen Tennisball zuwirfst, so wird er ihn fangen.
Ich fragte interessiert zurück: Und wenn ich gleich mehrere Tennisbälle werfe? Vielleicht so ... ummh ... zehn?
Meine Mutter verdrehte die Augen und entgegnete: Dann wird er keinen einzigen fangen.
Heute, am LED-Kamin sitzend, denke ich gerne an diese Zeiten zurück, als der Klimawandel noch gewollt war und Rauchen als cool galt.
Haben Sie schon mal das Wort ›Informationshierarchie‹ gehört? Das Wort stammt aus dem Journalismus und meint etwas, das eigentlich jedem sofort einleuchten sollte: Je wichtiger eine Information für den Betrachter/Leser/Zuhörer ist, desto leichter sollte der Zugang dazu sein. Auf einer Website zum Beispiel sollten die wichtigen Informationen möglichst weit oben angeordnet sein, sodass der Betrachter wenig oder möglichst gar nicht scrollen muss.
Wie eine Berater-Website auszusehen hat
Dieses Prinzip im Hinterkopf habend überlege ich mir beim Betrachten diverser Berater-Websites, wie das Briefing an die Agentur wohl ausgesehen haben mag. In etwa so müsste es abgelaufen sein: »Hm, oben links das Logo (→ 50 Shades of Blaugrau), klar. Man sollte uns schon sehen, also ein Foto von uns (→ Fear the Walking Dead). Oder besser: ein Slider. Darauf steht dann, warum man uns engagieren soll (Kompetenz, Seriosität, Zuverlässigkeit etc.). Unser Claim (›Sicherheit und Zukunft für Menschen‹) ist natürlich auch total wichtig, der kommt dann ... hm ... zum Logo, ja? Das muss eine Einheit bilden! Unsere E-Mail und Telefonnummer müssen direkt sichtbar sein. Ein Call-to-action-Button wäre uns auch wichtig; und die Neuigkeiten müssen ganz nach oben. Man sollte auch schon den ersten Absatz vom Text lesen können. Und unsere Veranstaltungen, die Sprachauswahl, das Menu, den Bürohund, Frau Dingsbums als direkte Ansprechpartnerin, Anmeldung zum Newsletter, etc. pp.«
Viel zu viel auf einmal
Zusammen mit dem Cookie-Banner und dem Hinweis zur Datenschutzeinstellung ist das, nun ja ... unter Werbern spricht man von ›Informations-Bukkake‹.
Oder anders: Da kommen mir sehr, sehr viele Tennisbälle entgegen. Die bekannte japanische Ordnungsberaterin Marie Kondō würde im Grab rotieren, wäre sie schon tot.

“TIDYING UP WITH MARIE KONDO” hätten auch viele Beraterwebsites nötig, so Wolfram Saathoff von Haus am Meer(picture alliance / Everett Collection | Copyright © ©Netflix/Courtesy Everett Collection)
Beratungswebsites sehen aus, als hätte man zweihundert Radios gleichzeitig voll aufgedreht. Jedes Detail brüllt nach meiner Aufmerksamkeit, mein Auge hetzt von einem Pixel zum nächsten, mein Gehirn kommt gar nicht hinterher, meine Hand denkt, irgendwo klicken zu müssen. In einer Hierarchie, in der alle auf der obersten Stufe stehen, gibt es keine Hierarchie. Da hat ein Heuhaufen eine klarere Struktur. Bevor mich der Hirninfarkt ereilt, verlasse ich die Seite und nehme nichts mit.
Alles ist gleich wichtig
Das Problem: Irgendwie ist alles total wichtig. Also muss auch alles nach ganz oben, auf den ersten Blick sicht- und klickbar. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Man muss nicht immer vom dümmsten anzunehmenden User ausgehen. Wer unterfordert werden will, soll RTL2 gucken. Aber man kann es den Menschen auch künstlich schwer machen.
Deshalb sollte die Devise lauten: Ärmel hochkrempeln und das Informationsknäuel entwirren.
Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Aufräumen und Marie Kondō ein langes Leben. Over and out.
Über die Person
Warum sehen Beratungsunternehmen eigentlich so aus wie sie aussehen? Diese Frage stellt sich Wolfram Saathoff (Schuhgröße 43) in seiner monatlichen Kolumne. Der Kommunikationsdesigner und Trendforscher hat in Hamburg an der Design Factory International studiert und führt seit 2004 zusammen mit seinem Partner in Crime Steffen Kratz die Werbeagentur Haus am Meer in Barcelona. Gemeinsam machen sie die Beratungsbranche schöner. Mehr über die Agentur für Berater: www.hausammeer.org
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