Digitalisierung in der Assekuranz funktioniert nicht ohne Versicherungsvertreter
Von Axel Stempel, Geschäftsführer von HEUTE UND MORGEN
Das Blatt hat sich gewendet
Mittlerweile findet jedoch ein deutliches Umdenken statt: Es wird in großem Maßstab in Digitalisierungsprojekte und Online-Portale investiert. Viele Versicherer setzen zudem auf die Gründung, Unterstützung oder den Kauf von Fintechs, um "von außen" neue Impulse in das eigene Unternehmen zu tragen und den Anschluss an digitale Produkte und innovative Vertriebswege nicht zu verpassen.
Dass die Digitalisierung auch in der Versicherungsbranche mittlerweile bei den Endkunden angekommen ist, zeigen Zahlen aus einer aktuellen Studie unseres Hauses (Quelle: HEUTE UND MORGEN Studie "Digitalisierung in der Assekuranz"; Mai 2016):
- Jeder dritte Bundesbürger ab 18 Jahren hat sich in den vergangenen zwölf Monaten im Internet zum Thema Versicherungen informiert.
- Wer sich über Versicherungen informiert, tut dies in zwei von drei Fällen (auch) online.
- Jeder Vierte hat sich im vergangenen Jahr eine oder mehrere Versicherungsprämie(n) online berechnen lassen.
- 37 Prozent der Bundesbürger haben bereits mindestens einmal eine Versicherung online abgeschlossen. Rund die Hälfte aller Online-Abschlüsse entfällt dabei auf die Kfz-Versicherung.
Folgt nun aus diesen Entwicklungen automatisch ein beschleunigtes und schon häufig prognostiziertes Aussterben des klassischen Versicherungsvertreters? Wird dieser für einen erfolgreichen Versicherungsvertrieb zukünftig nicht mehr benötigt? Keineswegs!
Dem Versicherungsvertreter kommen auch zukünftig – und nicht zuletzt bei der Umsetzung erfolgreicher Digitalisierungsstrategien – zentrale und neue Rollen zu.
Onlineaffine Kundensegmente aktuell noch in der Unterzahl
Denn obwohl sich die Mehrheit der Bundesbürger zum Thema Versicherungen heutzutage im Internet informiert, zeigen sich viele in Versicherungsfragen weniger onlineaffin als es die oben dargestellten Ergebnisse zunächst vermuten lassen. Zugleich erweist sich die digitale Affinität der Versicherungskunden weniger abhängig von soziodemographischen Merkmalen wie Alter oder Geschlecht wie es häufig propagiert wird. Wichtigste Einflussfaktoren der Onlineaffinität sind vielmehr die Versicherungskompetenz sowie die Medienkompetenz des Kunden.

Der "Digitale Versicherungsrationalist" (18 Prozent der Gesamtbevölkerung), der überdurchschnittlich versicherungs- als auch medienkompetent ist, erledigt seine Versicherungsangelegenheiten heute bereits am liebsten online. Der "Kompetente Online-Flaneur" (27 Prozent der Gesamtbevölkerung) ist sehr aufgeschlossen gegenüber digitalen Angeboten der Assekuranz, aufgrund seiner geringeren Versicherungskompetenz aber vergleichsweise deutlich weniger online-aktiv als der "Digitale Versicherungsrationalist".
Im Gegensatz zu diesen beiden stärker digitalisierungsaffinen Kundentypen sind 55 Prozent der Bevölkerung aus unterschiedlichen Gründen weiterhin weniger onlineaffin. In diesen Kundengruppen spielt der "persönlich bekannte Berater" auch bereits im Informationsprozess weiterhin eine dominante Rolle. Zugleich zeigt sich: fast alle Kundensegmente nutzen in der Informationsphase zu Versicherungsabschlüssen einen Mix aus Onlineinformationen und persönlicher Beratung.
"Frisch gegoogelt" bedeutet aus Kundensicht also nicht automatisch, auf gute individuelle Beratung verzichten zu wollen oder zu können.

Die Analyse der Verteilung der Digitalisierungstypen zeigt zudem, dass die verschiedenen Segmente bei einzelnen Versicherern unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Um das richtige Maß und die richtige Mixtur für die eigenen Digitalisierungsstrategien zu finden, sollten Versicherer daher ihre Kundenstruktur in puncto Onlineaffinität genau kennen.
Kundenportale werden gewünscht, aber oft noch nicht genutzt
Fragt man Versicherungskunden, in welchen Bereichen sie sich zukünftig digitale Unterstützung und Services wünschen, werden mehrheitlich Aspekte genannt, die im Bereich der Vertragsverwaltung liegen. Hierzu zählen beispielsweise persönliche Daten direkt online anpassen, sich zum Stand laufender Verträge online informieren oder Schäden online einreichen zu können.
"Ich wünsche mir ein Portal mit einer Übersicht zu bestehenden Versicherungen, fällig werdenden Zahlungen und Ablaufdaten" lautet ein exemplarischer "digitaler Zukunftswunsch" der Versicherungskunden.
Auf der anderen Seite fallen die Erfahrungen einzelner Gesellschaften mit den Nutzungsraten ihrer Kundenportale häufig noch enttäuschend aus. Ein Grund dafür: 42 Prozent der Kunden wissen nicht einmal, ob der eigene Versicherer überhaupt ein Kundenportal anbietet (Quelle: HEUTE UND MORGEN Studie "Kundenportale in der Assekuranz", 2015).
Dies zeigt, wie wichtig der Versicherungsvertreter auch für die Heranführung der Kunden an digitale Services und Mehrwerte ist. Trotz ausdrücklichem Wunsch nach digitalen Unterstützungsangeboten zur Vertragsverwaltung gelingt es den Versicherern aktuell noch nicht, wesentliche Anteile ihrer Kunden für Kundenportale zu gewinnen.
Unwissenheit über digitale Angebote und fehlendes Zutrauen in die eigene Onlinekompetenz, aber auch eingeschränkte Usability von Kundenportalen und nicht zuletzt wichtige fehlende "Vermittlungsschritte" sind hierfür verantwortlich. Zugleich bergen unausgereifte und desintegrierte Digitalisierungsstrategien die Gefahr, die oft beklagte Distanz und Beziehungslosigkeit zwischen Kunden und Vertragspartnern noch zu vertiefen.
Tragfähige Zukunftsperspektiven erforderlich
Ganz offensichtlich bedarf es vertrauter Personen (=Versicherungsberater), die den Kunden begleiten und ihm beispielsweise auch im Rahmen einer persönlichen Beratung die Vorteile und Mehrwerte digitaler Assekuranz-Leistungen näherbringen, um so langfristig die Kundenzufriedenheit und die Kundenbindung zu erhöhen. Freilich ist dabei auch die Rolle des Versicherungsberaters selbst neu zu definieren.
Zugleich stellt sich die Frage: Warum sollten Versicherungsvertreter digitale Strategien der Produktgeber unterstützen und damit wichtige Kontaktanliegen für Kundengespräche und am Ende auch bares Geld "verschenken"?
Als Grundproblem erscheint, dass viele Versicherer – zumindest aus Kundensicht –nach wie vor einen Multi-Channel-Ansatz mit verschiedenen parallelen Vertriebskanälen verfolgen, die relativ autark nebeneinander existieren und agieren. Die Verknüpfung zwischen Online- und Offlinekanälen erfolgt häufig nur nach dem Modell des sogenannten "ROPO-Effekts", also der Führung über Onlinekanäle zum Offlineabschluss.
Warum aber eigentlich nicht auch genau umgekehrt? Im Handel lässt sich bei hochpreisigen Gütern wie beispielsweise Technikgeräten schon seit einigen Jahren das sogenannte "Showrooming" beobachten: Konsumenten probieren Geräte im Ladenlokal aus (Stichwort: haptisches Erleben) und kaufen diese später aus Bequemlichkeitsgründen und aufgrund von Preisvorteilen im Internet.
Undenkbar für die Versicherungsbranche? Keineswegs!
Während die haptische Anmutung einer Versicherungspolice zu vernachlässigen ist, kann dieser Ansatz auch dem Berater entscheidende Vorteile bieten: denn gerade bei Versicherungen mit einem hohen langfristigen Investment und langfristiger Bindung – wie beispielsweise Rentenversicherungen – wünschen sich Kunden nach einer Erstberatung häufig eine Bedenkzeit, um abzuwägen zu können oder auch Alternativangebote einzuholen.
Wenn der Kunde direkt nach der Beratung:
- online noch einmal auf alle für seine persönliche Situation wesentlichen Angebotsvorteile zugreifen kann,
- gleichzeitig gegebenenfalls noch weitere mögliche Vergleiche oder Alternativen vorfindet,
- einfach per Mouse-Click, ohne dafür erneut die Agentur aufsuchen zu müssen, das Produkt final abschließen kann,
- dabei durch eine Online-Kündigungsmöglichkeit Vertrauen und Sicherheit spürt
- und deshalb auch auf den weiteren Besuch konkurrierender Anbieterseiten oder Vergleichsrechner verzichten kann,
wäre all dies nicht auch von Vorteil für den Versicherungsvertreter? Aus dem gegenwärtigen Multi-Channel-Vertrieb könnte so eine höherentwickelte Evolutionsstufe des Mehrkanalvertriebs, das sogenannte "No-Line-Commerce" werden, also eine wirkliche Verschmelzung von Online- und Offlinekanälen.
Damit dieser Ansatz funktioniert und Vertreter im Sinne der Gesellschaft handeln, müssen freilich verschiedene Voraussetzungen erfüllt sein:
- Vertreter müssen viel stärker in die Entwicklung digitaler Mehrwertleistungen wie Kundenportale eingebunden werden.
- Die Usability von Kundenportalen muss deutlich erhöht werden, sodass Vertreter digitale Angebote im Beratungsgespräch auch wirklich gerne als Mehrwerte vorführen.
- Vertreter müssen von Onlineabschlüssen beziehungsweise von der Nutzung von Onlineservices durch die Kunden profitieren (Stichwort: Zuschlüsselung von Provisionen).
Zu guter Letzt
Für Versicherer ist es wenig erstrebenswert, alle Kunden zu "Digitalen Versicherungsrationalisten" zu erziehen. Denn: aktuell besitzen diese im Durchschnitt einen Versicherungsvertrag weniger als die beraterorientierten Kunden; zudem zeigen sich diese oft weniger anbietertreu.
Insgesamt gilt es, in Digitalisierungsfragen keinen einseitigen Denkschemen zu verfallen. Im digitalen Zeitalter der Assekuranz geht es vielmehr darum, Kundenwünsche, Kundenbeziehungen und die Rollen von Versicherern und ihrer Vertreter auf neue, innovative und integrierte Weise zu interpretieren und aktiv zu gestalten. Hierbei stehen wir erst am Anfang – und sind als zuverlässige und weitblickende Berater auch selbst in hohem Maße gefordert.
Zur Person

Axel Stempel ist Gründer und Geschäftsführer des Marktforschungs- und Beratungsinstituts HEUTE UND MORGEN. Seit Jahren berät er Versicherer bei der Entwicklung und Einführung von digitalen Produkten, Prozessen und Services durch Einbeziehung der Erwartungshaltung von Kunden und Vertriebspartnern. Weitere Beratungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Kundenbindung und Kundensegmentierung. Axel Stempel ist Betriebswirt und seit über 15 Jahren in verschiedenen Positionen in der Marktforschung tätig.
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