Christoph Butterwegge Extreme Ungleichheit – Gift für die Demokratie
In dem kürzlich erschienenen Kommentar "Butterwegge, Quark und Soße" auf CONSULTING.de kritisierte Prof. Horst Müller-Peters einzelne Aussagen aus dem neuen Buch von Prof. Dr. Christoph Butterwegge. Als Reaktion hat Herr Butterwegge einen Beitrag für consulting.de zur Entwicklung von Ungleichheit und deren Auswirkung auf die Demokratie verfasst.

Ungleichheit in Deutschland auf Rekordniveau
Nach den neuesten Daten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) entfallen 67 Prozent des Nettogesamtvermögens auf das oberste Zehntel der Verteilung, 35 Prozent konzentrieren sich beim reichsten Prozent der Bevölkerung und das reichste Promille kommt immer noch auf 20 Prozent des Nettogesamtvermögens. Der auf dieser Basis berechnete Gini-Koeffizient beträgt 0,83. Dabei handelt es sich um ein Ungleichheitsmaß, das bei völliger Gleichverteilung (alle Personen besitzen das gleiche) 0 und bei extremer Ungleichverteilung (eine Person besitzt alles) 1 beträgt. Deutschland erreicht fast den US-amerikanischen Vergleichswert, der mit 0,85 bis 0,87 angegeben wird, was die ganze Dramatik der Verteilungsschieflage hierzulande zeigt. Die 45 reichsten (Unternehmer-)Familien besitzen inzwischen mehr als die ärmere Hälfte der Bevölkerung - immerhin über 40 Millionen Menschen.
40 Prozent der Bevölkerung haben laut DIW-Angaben kein nennenswertes Vermögen, leben also - zugespitzt formuliert - von der Hand in den Mund und sind nur einen Lockdown, eine schwere Krankheit oder eine Kündigung von der Armut entfernt. Nach den Maßstäben der Europäischen Union waren im Jahr 2019 hierzulande über 13,3 Millionen Menschen von Einkommensarmut betroffen oder bedroht. Sie hatten weniger als 60 Prozent des bedarfsgewichteten mittleren Haushaltsnettoeinkommens zur Verfügung, was für Alleinstehende 1.074 Euro im Monat entsprach. Mit 15,9 Prozent erreichte die Armuts(risiko)quote einen Rekordstand im vereinten Deutschland, obwohl sie in den östlichen Bundesländern nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns gesunken war. Die höchsten Armutsrisiken wiesen Erwerbslose (57,9 Prozent), Alleinerziehende (42,7 Prozent) und Nichtdeutsche (35,2 Prozent) auf. Kinder, Jugendliche und Heranwachsende waren ebenfalls stark betroffen, während das Armutsrisiko der Senioren seit geraumer Zeit am stärksten zunimmt.
Demokratie und soziale Ungleichheit
Demokratie ist mehr als ein politisches Regelwerk, das es Staatsbürgern erlaubt, bei Wahlen alle vier oder fünf Jahre ihre Stimme abzugeben. Demokratie bedeutet, dass alle Wohnbürger eines Landes über dessen Entwicklung durch Teilnahme an den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen mitbestimmen (können). Hierzu müssen sie über die materiellen Mittel verfügen, um auch politische und Bildungsveranstaltungen in ferner gelegenen Orten zu besuchen sowie sich an Aktionen, Kundgebungen und Demonstrationen zu beteiligen. Wie aber soll dies eine alleinerziehende Mutter im Hartz-IV-Bezug, die nicht weiß, ob sie am 20. des Monats noch eine warme Mahlzeit auf den Tisch bringt, oder eine Kleinstrentnerin tun, die befürchten muss, dass ihr der Strom und/oder das Gas nach Mahnungen des Energieerzeugers abgestellt werden?
Arme steigen selten auf die Barrikaden, weil sie die Bewältigung des Alltags so viel Zeit, Kraft und Energie kostet, dass für politisches Engagement, Protest und Widerstand wenig übrig bleibt. Da die Betroffenen selbst für ihre Misere verantwortlich gemacht werden und diese Fremdzuschreibung teilweise übernehmen, ziehen sie sich häufig voller Scham aus dem öffentlichen Raum zurück, was die Gefahr ihrer sozialen Isolation, Vereinsamung und Ausgrenzung verstärkt. Umgekehrt bietet großer Reichtum seinen Nutznießern die Möglichkeit, politische Macht auszuüben. Sowohl massenhafte Armut wie auch unermesslicher Reichtum sind eine Gefahr für Demokratie, weil sie die Grundlagen für eine gleichberechtigte Teilnahme aller Bürger an politischen Willensbildungs- bzw. Entscheidungsprozessen unterminieren.
Wenn die Armen nicht mehr zur Wahl gehen, stirbt die Demokratie
Mangels besser geeigneter Indikatoren ist die Wahlbeteiligung ein Maß für die politische Partizipationsfähigkeit bzw. -bereitschaft der Bürger eines Landes. Trotz gewisser Schwankungen ist sie in der Bundesrepublik seit Jahrzehnten rückläufig. Zwar gibt es Wissenschaftler, die den langfristigen Trend als "Normalisierung" gegenüber westlichen Demokratien interpretieren, in denen es nie so hohe Beteiligungsquoten wie bei Bundestagswahlen gab. Eine solche Deutung übersieht jedoch die Schichtspezifik der Entwicklung, welche als Krisensymptom des politischen Systems gelten kann. Das im gesellschaftlichen Durchschnitt rückläufige Vertrauen der Bürger zu den etablierten Parteien und Politikern hängt nämlich stark von ihrer Klassen- bzw. Schichtzugehörigkeit ab.
Wie es scheint, ist Wahlabstinenz häufig die politische Konsequenz einer prekären Existenz. Arme werden nicht bloß ökonomisch benachteiligt und sozial ausgegrenzt, sondern auch politisch ins Abseits gedrängt. In allen deutschen Großstädten unterscheiden sich die Wahlbeteiligungen in den "angesagten" und den "abgehängten" Stadtteilen signifikant voneinander. So gaben bei der letzten Bundestagswahl 2017 in Hahnwald, einem Kölner Villenviertel, knapp 88,5 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab, wohingegen es in einer Hochhaussiedlung am Kölnberg (Stadtteil Meschenich) gerade einmal 24,3 Prozent waren. Wenn die soziale Verzerrung von Wahlergebnissen eine Repräsentation aller Stimmbürger kaum noch ermöglicht, wird das Ideal der politischen Gleichheit ad absurdum geführt. Darunter leidet die Demokratie, und zwar umso stärker, je mehr sich die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft.
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