Interview mit Jochen Ditsche und Manuel Schieler, Roland Berger „In der Beratung findet man Vieles nur zwischenmenschlich heraus“

In welchen Anwendungsfällen liegen die größten Potenziale Künstlicher Intelligenz? Was braucht es für ein erfolgreiches KI-Beratungsprojekt? Und wie verändern ChatGPT & Co. das Consulting Business? Über diese und weitere Fragen sprach CONSULTING.de mit Jochen Ditsche und Manuel Schieler von Roland Berger.

Trotz der vielen Fortschritte durch KI in der Beratung, steht das Zwischenmenschliche immer noch an erster Stelle. (Bild: picture alliance / Westend61 | Valentina Barreto)

Wann haben Sie bei Roland Berger begonnen, sich mit dem Thema KI zu beschäftigen? Wo lagen damals die Schwerpunkte?

Jochen Ditsche: Wir haben bereits im Jahr 2008 begonnen uns mit dem Thema KI zu beschäftigen. Maschinengestützte Datenanalyse gab es zu dieser Zeit schon – nur bemerkte man damals eine größere Nachfrage nach Big Data, KI und maschinellem Lernen. Noch einmal deutlich nach vorne getrieben wurde das Thema im Jahr 2012 durch das Buch „Data Unser“, welches federführend von Experten aus dem Hause Roland Berger verfasst wurde.

Ein Großteil der Anfragen kam zunächst vorrangig von Banken und Konsumgüterunternehmen.

Inhaltlich lag der Fokus der Projekte zu dieser Zeit meist auf dem Themenfeld Customer Intelligence – d.h. es ging um die Frage: Was kann man anhand von Daten über Kunden lernen, um Produkte zu verbessern? Die Rechenleistung war damals jedoch noch der limitierende Faktor.

Wann haben Sie KI als eigenes Beratungsfeld aufgebaut? Welche Themen bespielen Sie heute im Bereich KI?

Jochen Ditsche: Irgendwann war es nicht mehr ausreichend, über die Themen KI & Analytics rein konzeptionell zu sprechen und Use Cases auf dem Papier zu entwickeln. Deshalb haben wir im Jahr 2017 beschlossen, auch inhouse Teams aufzustellen, die die Themen schlagkräftig und in der Breite abdecken können. Eine Besonderheit ist, dass unsere Experten in der Lage sind, alle Use Cases vollständig programmierseitig umzusetzen. Seitdem decken wir Data & Analytics an allen wesentlichen Kundenschnittstellen industrieübergreifend ab und entwickeln hochspezialisierte eigene Algorithmen – zum Beispiel in den Bereichen Netzwerkoptimierung, Forecasting oder Dynamic Pricing. Zudem beraten wir Unternehmen bei der Etablierung einer zeitgemäßen Daten-Infrastruktur sowie bei organisatorischen beziehungsweise Governance-Fragen für Data & Analytics-Themen. Somit bilden wir erfolgreich das gesamte Spektrum der Wertschöpfungskette im Feld der Analytics ab.

Wo sehen Sie die größten Potenziale für KI im Produktions- und Dienstleistungssektor? Wo haben wir schon eine recht hohe Reife? Wo ist noch etwas Zukunftsmusik drin?

Manuel Schieler: Eine hohe Reife sehen wir bei Anwendungsfällen, die es bereits sehr lange gibt oder bei denen eine vergleichsweise gute Datengrundlage vorliegt. Das gilt zum Beispiel für Prozess- oder Netzwerkoptimierung. Ein weiterer Bereich mit stark steigender Datenqualität und -verfügbarkeit ist Customer Intelligence, dazu gehört u.a. auch die datengetriebene, dynamische Preisbildung.

An Bedeutung gewinnt KI zudem beim Forecasting. Obwohl es KI-gestützte Vorhersagemodelle schon lange gibt, haben diese durch die gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen wie zum Beispiel die Covid-Pandemie oder den Krieg in der Ukraine zusätzliche Relevanz gewonnen.

Bedingt durch die hohe Volatilität der Märkte gibt es eine gestiegene Nachfrage nach technologischen Lösungen, die Unternehmen kurz-, mittel- und langfristig bei der Planung unterstützen. Aktuell ist aber vor allem das Anwendungsfeld Generative AI mit den KI-Sprachmodellen wie GPT ein disruptives Thema, vor dem man sich absolut nicht verstecken sollte. Diese Technologie bietet Potential für nahezu jedes Unternehmen, sich neu auszurichten und effizienter zu werden, wobei insbesondere die klassischen Services–Bereiche, wie Marketing oder HR, und alle sehr textlastigen Bereiche betroffen sind.

Jochen Ditsche: Mit den KI-Sprachmodellen und KI-gestützten Grafikerstellungsprogrammen beschäftigen sich zahlreiche Menschen heute auch im Privaten. Ich glaube aber, dass sich viele Nutzer mit den Konsequenzen noch nicht richtig auseinandergesetzt haben. Gerade im Services-Bereich werden die Lösungen für ziemliche Umbrüche sorgen.

Konkrete Anwendungsfälle in der Produktion gibt es aktuell noch wenige; der Durchgriff auf den Shopfloor ist noch nicht sehr sichtbar. Das ist allerdings nur ein vorrübergehender Zustand.

Wir erwarten, dass die künftige Entwicklung analog zur ersten Welle der Digitalisierung erfolgen wird – diese wirkte sich auch zunächst im B2C-Bereich aus, bevor sie zwei, drei Jahre später auch bei den B2B-Unternehmen aufgeschlagen ist.

Unter dem Stichwort 4.0 verbinden sich auch viele Erwartungen an KI-Lösungen. Warum ist es in dem Bereich noch nicht zu einer flächendeckenden Anwendungsreife gekommen?

Jochen Ditsche: Wenn Sie die Anwendungsfälle von KI-Sprachmodellen zum Vergleich nehmen: Trainings-Daten, die so umfassend sind, dass sie in ein KI-Sprachmodell einfließen können, werden Sie beispielsweise in der Stricknadelindustrie gar nicht finden. In den geeigneten Bereichen, die die nötige Datenmenge besitzen beziehungsweise generieren können, fließen allerdings sehr hohe Investitionen in das Thema KI. Von Machine Learning (ML) über autonome Fahrzeuge bis hin zu automatisierten Algorithmen für die Aufzugsteuerung – es gibt viele separierte Anwendungsfälle und Forschungsprojekte.

Lassen Sie uns über die Kundenseite reden. Wo stehen Unternehmen in Deutschland hinsichtlich KI-Reife?

Manuel Schieler: Großunternehmen können ihren finanziellen Spielraum nutzen, um einerseits Use Cases zu entwickeln und zu skalieren, andererseits verfügen sie aber auch über das interne Know-how und das Personal, um diese am Leben zu halten. Kleine Unternehmen bzw. Startups sind hingegen oft innovativ in der Anwendung von ML und AI, da sie bestimmte Veränderungsprozesse sehr schnell umsetzen können. Ansonsten ist der Reifegrad stark branchenabhängig.

Sehr große Fortschritte gibt es beispielsweise im Bereich des autonomen Fahrens. Dort hat man seit Jahren verstanden, wie eine funktionierende Datenbasis auszusehen hat.

 Insgesamt beobachten wir, dass sich Unternehmen vermehrt mit diesen Themen beschäftigen. Vor einigen Jahren haben viele auch nicht in der Cloud gearbeitet, weil einige Bedenken gegenüber der Technologie bestanden – so wie heute im Bereich Generative AI.

Jochen Ditsche: Covid hat an dieser Stelle geholfen. Während der Hochphase der Pandemie haben wir gesehen, dass digitale Kanäle geöffnet wurden, um sich unabhängiger zu machen. Zugleich fand aber auch ein „Over Investment“ in digitale Technologie statt und es wurden sehr große Projekte angeschoben. Teilweise muss man mit Kunden dann im Nachgang eruieren, wie man nun die angeschafften Systeme und Technologien effizient nutzt und smart miteinander verknüpft.

Inwieweit arbeiten sie selbst in Ihrer Projektarbeit mit entsprechenden Tools?

Manuel Schieler: Wir nutzen asset-based consulting mittels KI-Applikationen in unserem Team. Wichtig ist dabei, dass die Arbeit mit sensiblen Daten innerhalb einer sicheren Infrastruktur geschieht und die Resultate immer einem „menschlichen Plausibilitäts- und Qualitätscheck“ im Anschluss unterzogen werden. Die neuesten NLP-Technologien werden den Consulting-Markt beeinflussen, indem Standardwissen schneller verfügbar ist und individuelles Expertenwissen immer wichtiger wird. Mit Hilfe dieser Tools können zeitaufwändige Arbeitsschritte sehr kondensiert abgebildet werden. Durch die entsprechenden Effizienzgewinne entstehen Freiräume, die wiederum neues Potenzial für die Projektarbeit mit sich bringen.

Und die Auswirkungen auf den Beraterberuf? Können Sie sich vorstellen, dass KI zum Berater wird und im direkten Kontakt zu Kunden steht?

Jochen Ditsche: Ich glaube, man muss an dieser Stelle zwei Dinge unterscheiden. Das erste wäre der initiale Kontakt, der zum Beispiel durch einen Chatbot erfolgen könnte, der das Basisangebot einer Beratung erläutert. Das kann ich mir gut vorstellen. Bei der Beratung kommen wir hingegen sehr schnell in die Abwicklung komplexer Projekte, bei denen man auch Vieles erst einmal zwischenmenschlich herausfinden muss. Ich sehe nicht, dass das von einer KI-Anwendung geleistet werden könnte. Ich will mich jedoch nicht dagegen verwahren, dass – wenn ein Projekt einmal aufgesetzt ist – wir einen höheren Automatisierungsgrad erleben werden.

Bis dahin werden wir uns jedoch noch einige Zeit damit beschäftigen müssen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Wie gehen wir mit der Datenverfügbarkeit um? Wie gehen wir mit dem Output um?

Angenommen, Sie würden zu einem Problem eine Antwort von einem Sprachmodell bekommen: Hier müssen erfahrende Berater noch einmal semantisch klären, ob die Analysen und Vorschläge tatsächlich zum Kunden beziehungsweise zur Situation passen. Und darin liegt ja auch der Wertbeitrag, der vom Menschen besser geleistet wird.

Künstliche Intelligenz ist bei vielen Menschen auch mit Skepsis verbunden. Inwieweit teilen Sie diese?

Jochen Ditsche: Die Frage, die man sich allgemein stellen muss, ist: Welche Tätigkeiten will man überhaupt von einer KI abbilden lassen? Darüber hinaus haben wir schon heute das Phänomen, dass in KI oft faktisch eine Zensurfunktion eingebaut ist. Manche Dinge sind von vornherein ausgeschlossen und kommen gar nicht in den Raum dessen, was diskutiert werden kann.

Bei KI-Sprachmodellen gibt es zum Beispiel Limitierungen bei dem, was Sie fragen dürfen, was die Maschine antworten kann, wie Sie mit der KI interagieren können, und wie Sie nicht mit ihr interagieren können.

Vielfach weiß man beispielsweise nicht, welche Keywords man nicht benutzen kann beziehungsweise nicht berücksichtigt werden. Es gibt keinen offenen Thesaurus. Innerhalb des nächsten Jahres sollte man sich in Deutschland und Europa dringend mit Regeln auseinandersetzen. Diese Regeln dürfen jedoch nicht dazu führen, dass wir von der technologischen Entwicklung abgehängt werden, aber müssen einen sicheren Umgang ermöglichen.

Das Interview führte Alexander Kolberg, Redakteur bei CONSULTING.de.

 

Über die Personen

Jochen Ditsche ist Senior Partner bei Roland Berger und verantwortet das globale Digitalgeschäft. Er unterstützt seit über 15 Jahren Klienten in strategischen Fragen der Digitalisierung, bei Transformationsprozessen und dem Entwickeln neuer Geschäftsmodelle. Zu seinen Kunden zählen Unternehmen aus einer Vielzahl von Branchen, darunter Telekommunikation, Finanzdienstleistungen und Automotive. Jochen Ditsche hat einen Doktortitel in Mathematik von der Universität Mainz. Er besuchte außerdem die... mehr

Dr. Manuel Schieler ist Principal bei Roland Berger. Sein Schwerpunkt liegt an der Schnittstelle zwischen Datenarbeit und Strategieberatung. Er berät Kunden aus allen Industrien vor allem bei den Themen Advanced Analytics und AI Strategy sowie beim Aufbau von Data & AI Teams und entsprechenden Geschäftsmodellen. Manuel Schieler hat an der Universität des Saarlandes in Wirtschaftswissenschaften promoviert.

Weitere Informationen zum Unternehmen auf CONSULTING.de:

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