Damir Maras & Mark D. Orlic, PwC Deutschland „KI-Beratung muss sich nicht von Grund auf neu erfinden“

Damir Maras (li.) und Mark D. Orlic. (Bilder: PwC Deutschland)
Welche Bedeutung haben neue Generative KI-Systeme im Kontext der Digitalisierung?
Damir Maras: Es ist zweifellos eine neue Ära der Digitalisierung angebrochen. Generative KI kann qualitativ hochwertige Bilder erzeugen, Texte zusammenfassen und auf nahezu jede beliebige Frage eine plausible Antwort geben. Die Grenze des maschinell Machbaren verschiebt sich auf einen Schlag sehr weit und die Auswirkungen wirken überwältigend. Die Tatsache, dass viele Unternehmen aus dem Silicon Valley kurz nach der Öffnung von ChatGPT für die Öffentlichkeit eigene Chatbots angekündigt haben, zeigt, dass das Rennen um die Vormacht bei dieser disruptiven Technologie begonnen hat.
KI-Systeme wie ChatGPT haben die Perspektive vieler Menschen auf das, was Künstliche Intelligenz leisten kann, deutlich verändert.
Inwiefern?
Damir Maras: Was lange als weit entfernte Zukunftsmusik galt, ist plötzlich sehr laut und deutlich hörbar. Umso dringender scheint es geboten, sich mit den Auswirkungen der neuen technischen Möglichkeiten auf das eigene Geschäft auseinanderzusetzen. Die gute Nachricht: So revolutionär die Neuerungen auch sein mögen, sie wurden in der ein oder anderen Form bereits antizipiert. Unternehmen treffen auf eine seit mehreren Jahren etablierte Beratungspraxis, die ihnen bei der Einordnung der neuen Technologie und der Anwendung auf ihr Geschäft helfen kann.
Wie sah diese Beratungspraxis bislang aus und wo war sie eingeordnet?
Damir Maras: Das Beratungsfeld rund um Künstliche Intelligenz ist typischerweise in die Beratung im Kontext der digitalen Transformation eingebunden. Und das aus gutem Grund. Die Kernfrage, die sich Unternehmen stellen sollten, lautet schließlich nicht, wie sich eine bestimmte Technologie einsetzen lässt. Sie lautet vielmehr: Wie kann das Unternehmen neue oder verbesserte Wertschöpfungsprozesse realisieren und wie muss es sich dafür verändern? Digitale Technologien sind dafür ein Mittel zum Zweck, aber nie ein reiner Selbstzweck.
Auch wenn durch generative KI neue Wertschöpfungsszenarien entstehen, hilft bei der Einordnung der Erfahrungsschatz aus vergangenen Projekten im Bereich der digitalen Transformation.
Inwieweit muss sich die Beratung an neue Bedingungen anpassen? Und wo kann sie auf Bestehendem aufbauen?
Damir Maras: Viele der bereits gewonnenen Erkenntnisse aus Digitalisierungsprojekten sind unmittelbar auf die Situation der sich jetzt neu eröffnenden technologischen Stufe adaptierbar. Die Beratungspraxis muss sich selbstverständlich aber auch weiterentwickeln. Sie muss den Möglichkeitsraum der neuen Technologie für die Wertschöpfung ihrer Kunden erforschen, abstecken und erschließen – auch unter der eigenen Zuhilfenahme entsprechender KI-Systeme. Das heißt aber nicht, dass sich die KI-Beratung von Grund auf neu erfinden muss. Viel zielführender ist es, auf einen Fundus an nach wie vor gültigen und hilfreichen Erfahrungen, Methoden und Best Practices zurückzugreifen.
Gibt es so eine Kontinuität auch bei der Durchführung von KI-Projekten?
Mark Orlic: Ja, die gibt es. Auch wenn jedes Projekt sehr individuell ist, helfen Erfahrungen aus vergangenen Projekten im Bereich der digitalen Transformation. So sind diejenigen Vorhaben am erfolgreichsten, die ein klares Ziel verfolgen.
Bereits vor dem eigentlichen Einsatz von Künstlicher Intelligenz gilt es, eine Vision zu entwickeln, auf deren Verwirklichung eine Organisation hinarbeiten kann. Der nächste Schritt ist die Erprobung von KI in konkreten Use Cases und die Einbindung in bestehende Abläufe.
Darauf aufbauend geht es darum, zukunftsträchtige Lösungen organisationsweit auszurollen. Die Technologie verlässt in der Organisation das Proof-of-Concept-Stadium und erreicht den Arbeitsalltag. Dieses grundsätzliche Vorgehen ist weiterhin sehr sinnvoll und zielführend.
Was sind wesentliche Erfolgsfaktoren für KI-Projekte unter den Voraussetzungen dieser neuen Digitalisierungsära?
Damir Maras: Auch bei Projekten mit generativer KI gilt die Devise: Technik allein reicht nicht. Viele Vorhaben scheitern schlichtweg, weil es am richtigen Mindset mangelt. Weil Misstrauen statt Vertrauen dominiert. Und weil die vorherrschenden Praktiken innerhalb der Organisation weitestgehend unverändert bleiben. Wir setzen deshalb konsequent auf den Beratungsansatz „human-led & tech-powered“. Es geht darum, Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und sie zu befähigen, wegweisende Technologien sinnvoll zu nutzen. Sonst drohen Widerstände.
Wenn es um Veränderungen geht, können Menschen eine ungeahnte Kreativität entwickeln, um den Status Quo beizubehalten. Gerade die Fähigkeiten generativer KI, potenziell bis dato nicht ersetzbare menschliche Tätigkeiten zu ersetzen, können schnell als Bedrohung wahrgenommen werden.
Wie lassen sich solche Vorbehalte gegen KI adressieren und Projekte zum Erfolg führen?
Damir Maras: Ein wesentlicher Erfolgsfaktor für KI-Projekte ist der Aufbau einer Innovationskultur. Dafür sind mehrere Grundsätze zu beachten. Unabdingbar ist zum Beispiel eine Toleranz für Fehlschläge, die unbedingt mit einer Intoleranz für Inkompetenz einhergehen sollte. Auch in einer offenen Innovationskultur begrenzen klare und verbindliche Regeln das Spielfeld. Ein wesentlicher Stolperstein für eine produktive Innovationskultur ist eine zu große Beliebigkeit, in der Verantwortlichkeiten diffundieren und Ziele verschwimmen.
Mark Orlic: Wichtig ist außerdem der Einsatz interdisziplinärer Teams, in denen verschiedene Kompetenzen aufeinandertreffen. Um die Chancen Künstlicher Intelligenz für eine Organisation auszuloten, ist gerade die Einbeziehung von Menschen mit verschiedenen Hintergründen entscheidend. Dabei sind Generalisten gefragter als Spezialisten. Spezialisten neigen häufig zu einem Tunnelblick. Generalisten hingegen können mit vielfältigen Erfahrungen und Perspektiven besser neue Wege entwickeln, um Probleme zu lösen. Sie verfügen über ein größeres Repertoire, um durch Ambiguität und Ungewissheit zu navigieren.
Genauso wie generative KI-Modelle aufgrund mangelnder Vielfalt der Trainingsdaten diskriminierend oder zu eng werden, müssen auch Teams die gleiche Vielfalt an Perspektiven haben, um die besten Ergebnisse zu erzielen.
Es geht also vor allem darum, neue Zusammenhänge zu erkennen?
Mark Orlic: Ja, genau. Und um die Fähigkeit, den Status Quo in Frage zu stellen. Das verlangt auch immer ein bisschen Mut. Neben Verbesserungen bestehender Abläufe ist der Einsatz von Künstlicher Intelligenz nämlich gerade für jene Ansätze vielversprechend, die neue und innovative Arten der Wertschöpfung schaffen. Und solche Ansätze sind selten in isolierten Spezialbereichen zu finden. Häufig geht es vielmehr um geschickte Verknüpfungen in bereichs- und abteilungsübergreifenden Szenarien.
Welche Voraussetzungen helfen Organisationen dabei, KI wirklich erfolgreich zu nutzen – nicht nur in isolierten Testprojekten, sondern als wichtige Bausteine der Geschäftsabwicklung?
Mark Orlic: Aus technischer Perspektive sind klassischerweise ausgeprägte Analytics-Fähigkeiten eine zentrale Voraussetzung für erfolgreiche KI-Initiativen. Dies gilt auch für die neue Ära der generativen KI. Einerseits ist ein Verständnis der aktuellen großen Sprachmodelle notwendig, um deren Möglichkeiten und Einschränkungen zu verstehen. Andererseits helfen Analytics-Fähigkeiten dabei, die Datenschätze der eigenen Organisation in KI-Lösungen einfließen zu lassen. Um die Daten nutzbar zu machen, ist zudem eine modulare und flexible IT-Architektur eine wichtige Vorbedingung.
Damir Maras: Aus organisatorischer Sicht ist auch der Aufbau von Governance- und Führungsstrukturen für KI unabdingbar, die den Wandel zu einer datengetriebenen Entscheidungskultur unterstützen. Analog zu anderen Bereichen der digitalen Transformation ist außerdem auch im Bereich KI ein partnerschaftlicher Ansatz zielführend.
Wer die richtigen strategischen Partnerschaften eingeht und sich in die neu entstehenden Ökosysteme einbringen kann, ist für die Zukunft gut aufgestellt.
Was sollten Unternehmen angesichts der aktuellen Aufbruchstimmung rund um die Nutzung der neuen KI-Generation unbedingt beachten?
Mark Orlic: Der aktuelle Hype um generative KI-Systeme birgt die Gefahr einer einseitigen Betrachtung. Er verschattet weitere Spielarten von Künstlicher Intelligenz, die derzeit weniger im Rampenlicht stehen, deren gezielter Einsatz für Unternehmen aber nicht minder revolutionär sein kann. Dazu gehören zum Beispiel Machine Learning-Verfahren, die auf Basis einer trainierten Mustererkennung zeitaufwändige Klassifizierungsaufgaben automatisieren. Für die erfolgreiche Weiterentwicklung des Geschäfts mit KI sollten Entscheidungsträger die ganze Bandbreite der Möglichkeiten ausloten. Gerade deshalb ist eine integrierte Betrachtung im Rahmen der digitalen Transformation so essenziell.
Damir Maras: Auch wenn in vielen Punkten noch völlig unklar ist, welche Auswirkungen die jüngsten Fortschritte im Bereich der Künstlichen Intelligenz auf die Geschäftswelt haben werden, ist eine Sache gewiss: Wer erfolgreich sein will, muss neben den technischen Möglichkeiten immer auch die organisatorischen Faktoren und Rahmenbedingungen im Blick behalten. Den entscheidenden Unterschied macht nicht die Technik, sondern der Mensch.
Über die Personen
Damir Maras ist Mitglied der Geschäftsführung bei der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PwC Deutschland. Maras ist Co-Lead für den Bereich Advisory und Leiter Consulting und Experte für das Thema Transformation. Er ist seit mehr als 20 Jahren bei PwC.
Mark D. Orlic ist Partner im Bereich Digital Transformation & Innovation bei der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PwC Deutschland. Er leitet den Tax & Legal Incubator bei PwC und ist Experte für die Themen Transformation und Innovationskultur. Orlic ist seit 15 Jahren bei PwC.
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