Kolumne von Prof. Dr. Susanne Knorre Mehr Transparenz wagen - bitte nicht!

Allen, die sich gerade über die E-Mail-Flut mit nervtötenden Abfragen ärgern, die minutenlang Datenschutzerklärungen scrollen oder selbst sinnentleerte Prozessdokumentationen zum Datenschutz anlegen, weil sie die Abmahnindustrie fürchten - also uns allen sei gesagt: wir hätten es kommen sehen müssen!
Denn schon vor gut zehn Jahren flackerte kurz ein Diskurs auf, dessen zentrale Thesen etwa wie folgt lauteten: Wir leben nicht nur im Zeitalter der Digitalisierung, sondern auch in einem „Zeitalter der Transparenz“ (Hood & Heald, 2006, S. 212). Transparenz ist dabei zu einem normativen Begriff mit „semi-religiöser Bedeutung“ (Hood & Heald, 2006, S.3) geworden. Das Fehlen von Transparenz gilt allgemein als Ursache für Misstrauen und Machtspiele zwischen Stakeholdern – aber selbst wenn man diese Thesen schlucken würde, für den Umkehrschluss, dass mehr Transparenz die Lösung dieses Problems ist, gibt es schlicht keine Belege. Rigorose und ritualisierte Offenlegungspflichten wurden von ernst zu nehmenden Autoren vielmehr als „idiot transparency“ (Henriques 2007) bezeichnet.
Leider blieben diese kritischen Reflexionen ohne Folgen. Transparenz gilt weiterhin unbesehen als gute Sache. Fast jedes öffentliche oder firmeninterne Problem wird zumindest teilweise auf einen nicht näher definierten Mangel an Transparenz zurückgeführt, so dass die Lösung konsequenterweise lautet: mehr Transparenz schaffen! Etwas das nicht transparent ist oder gar sein will, macht dagegen sofort misstrauisch. “Mehr Transparenz“ lautet deshalb weiterhin die Universallösung quer durch alle gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Bereiche. "Full disclosure"-Politik - ganz gleich ob im Zuge des Compliance Managements, des Ratings, des Risikomanagement, dem Corporate-Governance-Kodex und Branchenregulierungen - gilt als Muss, über dessen Auswüchse allenfalls in internen Zirkeln gestöhnt wird. Wer will sich schon als Gegner von Transparenz zitiert sehen?
Um Transparenz aber nicht zu einer Glaubenssache zu machen, braucht es zunächst einmal eine erhellende Definition. Transparenz ist begrifflich zunächst einmal eine reine Objektbeschreibung und bedeutet wörtlich „Durchsichtigkeit“ – eine Eigenschaft, die keine Organisationsform per se vorweisen kann, weil sie ihre Existenz gerade der Abgrenzung von der Umwelt verdankt. Rein logisch würde also vollständige Transparenz das Ende von Organisationen bedeuten.
In krassem Gegensatz dazu hat der politisierte Begriff „Transparenz“ starke normative Konnotationen und ist mit Werten wie Souveränität, Freiheit oder Mitbestimmung einerseits, der staatlichen Fürsorgepflicht andererseits moralisch aufgeladen. Alle Seiten versprechen sich jeweils von mehr Transparenz auch mehr (öffentliches) Vertrauen, obwohl gerade dieser Zusammenhang stark anzuzweifeln ist. Ganz im Gegenteil: Untersuchungen legen nahe, dass mit dem Siegeszug der Transparenz das generelle Misstrauen zwischen Regierenden und Regierten eher gewachsen ist. Transparenz, so die plausible Vermutung, führt tendenziell zu einer Spirale des Misstrauens (Power 1996).
Die Reihe der gesetzlichen Offenlegungspflichten, mit denen Verbraucher, Patienten, Investoren oder Wähler vor schlechtem Service, gefährlichen Substanzen oder finanziellen Risiken bewahrt werden sollen, ist im vergangenen Jahrzehnt dennoch immer länger geworden. Und immer mehr Beobachter fragen sich: was hat es genützt? Denn Transparenz beschreibt eben nicht einfach eine einseitige Eigenschaft eines Objektes, sondern impliziert eine komplexe Kommunikation zwischen einer Organisation, die Informationen offen legt, und einem „Gegenüber“, nämlich einem Rezipienten des durchscheinend gemachten bzw. offengelegten Objektes. Definiert man den Transparenzbegriff auf diese Weise, so setzt er immer ein bestimmtes Verhalten und Kompetenz des „Transparenzberechtigten“ voraus. Ohne aktives Zutun eines Rezipienten gibt es keine Transparenz. Ob Chemikaliendatenbank oder elektronisches Lobbyistenregister - nur, wenn jemand durch eigenes Handeln aktiv wird, kann mehr Transparenz entstehen. Der Grad der Transparenz hängt damit nicht nur an den zur Transparenz Verpflichteten, sondern an der Motivation möglichst vieler Stakeholder, Informations- und Aufklärungsangebote tatsächlich zu nutzen. Die Grenzen dieser Motivation lassen sich aber gerade am Fallbeispiel der Datenschutzgrundverordnung ganz wunderbar beobachten. Oder haben Sie etwa die 35. Aufforderung, ihre Einwilligung für den tollen Newsletter noch einmal zu erteilen, nicht einfach entnervt weggeklickt?
In der Tat führt das "semi-religiöse" Bemühen um verstärkte Transparenz zu auffälligen Asymmetrien in der Nutzung: So sind Medien und NGOs nachweislich die wichtigsten Nutzer von ausufernden Informations- und Offenlegungspflichten. Ein allgemein gewachsenes Interesse an offen gelegten Informationen ist damit wie gesagt noch nicht zwangsläufig gegeben. Medien und NGOs selbst sind übrigens oft deutlich weniger transparent als die Organisationen, die sie zu mehr Transparenz drängen. Schließlich entsteht geradezu ein paradoxer Wirkungskreislauf zwischen Transparenzverpflichteten und Transparenzberechtigten: Dadurch, dass vor allem Unternehmen zu noch mehr Transparenz verpflichtet werden, wächst ihr Bedürfnis, mehr über die Gruppen zu wissen, die ihre Informationsrechte sogar auf dem Gerichtswege in Anspruch nehmen könnten. Deshalb hat die Medienanalyse inzwischen eine ungeahnte Popularität erreicht. Detailprofile von NGOs und handelnden Personen füllen Bände, ob Blogs oder wissenschaftliche Beiträge – alles wird vorsorglich im Rahmen des Risikomanagements gesammelt, gespeichert und - Achtung! - intransparent ausgewertet. Dagegen wendet sich dann wiederum die Datenschutzgrundverordnung. Was zu beweisen war.
Michael Power von der London School of Economics stellte schon 1999 fest, dass wir es insgesamt weniger mit kommunikativ hergestellte Transparenz zu tun haben, sondern mit ritualisierten Offenlegungen. Als solche stellen sie allenfalls eine formalisierte „Buchhalter-Transparenz“ her (Power 1997). „Um die Transparenz zu erhöhen und die Einhaltung dieser Verordnung zu verbessern, sollte angeregt werden, dass Zertifizierungsverfahren sowie Datenschutzsiegel und -prüfzeichen eingeführt werden.“ heißt es deshalb auch in der DSGVO. Rigoros durch die Hierarchiestufen einer Organisation implementierte Offenlegungsvorschriften führen aber letztlich zu einer geradezu dialektischen Beschreibung von Transparenz als virtuos konstruierte „Unternehmenswahrheit“ (Hernandez 2008). Die so genannte Transparenz besteht dann vor allem in der Fähigkeit der jeweiligen Organisation, formalisierte und zertifizierte Dokumente und Datenbanken anzufertigen, die die förmlichen Regeln für mehr Offenheit akribisch umsetzen. Dass sie bis auf die üblichen Verdächtigen niemand nutzen will oder kann, interessiert nur begrenzt. Eine ritualisierte Offenlegungspolitik wird am Ende von law firms, nicht von Unternehmern oder Politikern beherrscht.
Wird Transparenz dagegen als komplexe Kommunikation zwischen Unternehmen und Stakeholdern verstanden, dann geht es nicht mehr um dogmatische Betrachtung, sondern darum, im konkreten Einzelfall Grenzen, Interessen, Differenzen und Brüche in punkto Transparenz zu erklären und zu diskutieren. Konkrete Fallanalysen kommen schnell zu einem fast banal klingenden Schluss: "Full disclosure" führt manchmal zu den gewünschten Ergebnissen und manchmal eben nicht (Fung et al., 2007). Die Zeiten, in denen Transparenz als „Lösungsfetisch“ verehrt wurde, sollten deshalb dringend beendet werden. So gesehen kann das öffentliche Lamento um die Datenschutzgrundverordnung vielleicht doch noch etwas bringen.
Literatur
Fung, Archon, Graham, Mary & David Weil (2007): Full Disclosure: The Perils and Promise of Transparency, Cambridge University Press
Hood, Christopher & David Heald (Hrsg.) (2006): Transparency: The Key to Better Governance? Oxford University Press
Henriques, Adrian (2007): Corporate Truth. The Limits to Transparency, London: Earthscan
Power, Michael (1999): The Audit Society: Rituals of Verification, Oxford University Press
Zur Person:

Prof. Dr. Susanne Knorre arbeitet seit mehr als 12 Jahren als selbständige Unternehmensberaterin mit den Schwerpunkten Strategieentwicklung, Change Management und Organisationskommunikation. Seit 2007 ist sie nebenberufliche Professorin an der Hochschule Osnabrück. Susanne Knorre verfügt über langjährige Führungserfahrung in Wirtschaft und Politik. Von 2000 bis 2003 war sie Wirtschaftsministerin in Niedersachsen. Sie ist Mitglied in Aufsichtsräten namhafter deutscher Unternehmen.
www.knorre-consulting.com
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