Netzneutralität: Liberté, Egalité, Fraternité (Teil I)

Von Dr. Anna Schneider, YouGov
Sie mögen es mir verzeihen, dass diese Kolumne mit einer kleinen Fragerunde beginnt. Können Sie auf das Internet verzichten? Freuen Sie sich, wenn Sie das Internet öffnen, oder ist es vielmehr so, dass Sie sich ärgern, wenn Sie keinen Zugriff haben? Ist das „keinen Zugriff“ haben (abgesehen vom Smartphone im Funkloch) für Sie überhaupt noch vorstellbar?
Ich nehme an, Sie sind es gewöhnt, dass der Zugriff auf das Internet schnell und reibungslos funktioniert (oder trifft „verwöhnt“ es eher?).
Man denke einmal an den abendlichen Filmgenuss durch Video on Demand Portale oder die Lieblingsmusik, die längst aus der Cloud und nicht mehr von der CD kommt. Diese beiden Beispiele sind nur private Vergnügen, die ganz nebenbei laufen aber massive Datenströme erzeugen. Bedenkt man, dass die zunehmende Digitalisierung den Datenstrom exponentiell anwachsen lassen wird, zeichnet sich vor dem Hintergrund begrenzter Netzkapazitäten ein deutliches Problem ab. Auch wenn wir heute recht stabile Datenverbindungen genießen können, wird der von der Bundesregierung geforderte Ausbau einer flächendeckenden Versorgung mit schnellen Internetverbindungen nach Meinung von Experten nicht ausreichen. Es wird kritisiert, dass die von der Politik vorgegebenen Ziele bereits zum Zeitpunkt ihrer Festlegung bereits wieder veraltet seien, und man nicht in der Lage sein wird, die exponentiell ansteigende Nachfrage nach schnellen und verfügbaren Netzen zu bedienen.
Eine Lösung kann es sein, den Datenstrom zu kontrollieren und in die „richtigen“ Bahnen zu leiten oder aber auch solche Beteiligten zur Kasse zu bitten, die große Datenmengen produzieren oder besonders schnelle Datenverbindungen nutzen. Hiermit – so das Argument – sei es möglich, in Zeiten sinkender Erträge den notwendigen und geforderten Ausbau der Netze zu bezahlen. Diese beiden Entwürfe sind jedoch nicht mit dem festgeschriebenen Grundsatz der Netzneutralität vereinbar. Und während die Diskussion zwischen Experten in Politik und Wirtschaft bereits in vollem Gange ist, wurden Verbraucher noch nicht in die Diskussion mit einbezogen.
Da stellt sich doch die Frage, welche Position Verbraucher beziehen, wenn man ihnen denn eine Stimme in dieser Diskussion verleiht. BEREC (Body of European Regulators for Electronic Communications) hat vor diesem Hintergrund eine umfassende Grundlagenstudie in Auftrag gegeben, um erstmalig Bedeutung und Wert der Netzneutralität für europäische Verbraucher zu bemessen. BEREC verfolgt das Ziel „die Europäische Kommission und die nationalen Regulierungsbehörden bei der Umsetzung von Rahmenrichtlinien im Bereich Telekommunikation bestmöglich zu unterstützen”. Entsprechend gewichtig sind die Empfehlungen an nationale Regulierungsbehörden (in Deutschland die Bundesnetzagentur) und auch an Internetserviceprovider wie die Deutsche Telekom, 1&1, Vodafone, Unitymedia und Co.
Die besondere Herausforderung der Fragestellung nach dem Wert der Netzneutralität für Verbraucher lag darin, dass der Begriff Netzneutralität und die hiermit verbundenen Implikationen eine überaus komplexe und für Verbraucher in den meisten Fällen gänzlich unbekannte Thematik darstellt. Um dieses Forschungsproblem zu lösen wurde ein mehrstufiger Ansatz gewählt, der zunächst mithilfe qualitativer Methodik die zugrundeliegenden Einstellungen und Motive der Verbraucher erfasste und diese dann in einem weiteren Schritt quantifizierte.
Die Ergebnisse sind umfassend und eindrucksvoll (Gesamtbericht) und unterscheiden sich im Vergleich der einzelnen Länder mitunter deutlich.
Während in Deutschland vier von fünf Deutschen einen gleichwertigen und unbegrenzten Zugriff auf das Internet als Grundrecht ansehen, findet diese Aussage in Schweden (64 Prozent) deutlich weniger und in Griechenland (86 Prozent) am meisten Zustimmung.
Der Aussage „Jeder sollte das Recht haben auf den gesamten Inhalt und auf sämtliche Anwendungen zuzugreifen, die online zur Verfügung stehen.“ stimmen durchschnittlich ebenfalls etwa 80 Prozent der Befragten zu (siehe Grafik).

Aber was genau hat das Internet mit der französischen Revolution zu tun? Im Rahmen der qualitativen Studien zeigte sich, dass das Internet, im Gegensatz zu früher, ein fester Bestandteil des täglichen Lebens geworden ist. Das Internet wird besonders als Quelle unverfälschter und unzensierter Nachrichten geschätzt. Dadurch erlangt ein freier und unzensierter Zugriff auf das Internet aus Verbrauchersicht gerade in Zeiten nachgewiesener massiver Eingriffe in die Pressefreiheit besondere Bedeutung. Auch wenn das Vertrauen in die eigene Regierung in den befragten Ländern (Schweden, Griechenland, Kroatien, Tschechische Republik) grundsätzlich hoch ist, wird die Rolle des Internet im Kampf gegen Propaganda in Krisenregionen betont. Das Internet ist damit für Verbraucher ein Synonym für Freiheit. Anders formuliert: Internet = Liberté!
Dabei proklamierten die Befragten ein weiteres demokratisches Grundrecht: Internet = Egalité! Denn es sollten doch bitte alle „das gleiche Internet“ nutzen können und zwar überall. Verbraucher verstehen sich hier längst als vernetzte Weltbürger „Wir sind ein (Internet-)Volk“. Das Blockieren von Inhalten für alle oder einige Verbraucher verstößt daher massiv gegen die oben genannten Prinzipien weil es das Grundrecht auf freien und unbegrenzten Zugang zum Internet beschneidet.
Gleichzeitig befürwortet mehr als die Hälfte der befragten Verbraucher eine digitale Überholspur für offizielle Institutionen wie der Feuerwehr oder der Regierung. Bei diesem Ergebnis liegt einem zunächst einmal ein angenehmer Geschmack von Idealismus auf der Zunge, schließlich sind die Menschen bereit zu Gunsten höherer Zwecke kurzfristig das eigene Wohlbefinden einzuschränken. Dass sie damit der Grundregel der Netzneutralität, dass alle Daten im Internet gleichwertig sind und daher auch gleichwertig behandelt werden müssen, widersprechen stört dabei kaum.
Nun zum dritten Grundprinzip: Internet = Fraternité? Hier fällt die Antwort nicht ganz so eindeutig aus denn plötzlich schlägt Pragmatismus den Idealismus: Zwar fordern Nutzer eine gute Verbindungsqualität für sich und andere, aber es ist gleichzeitig für viele Befragte in Ordnung, wenn Anwendungen auch für private Nutzer priorisiert werden, die für diesen Service mehr bezahlen (siehe Grafik). Bei diesem Widerspruch wird man zunächst stutzig: Sieht „Brüderlichkeit“ nicht anders aus? Bei näherer Betrachtung löst sich dieser Widerspruch jedoch auf. Die dem Internet zugrundeliegenden Funktionsweisen werden nur von den wenigsten verstanden, vielmehr bewerten Verbraucher die Qualität ihrer Internetverbindung danach wie gut Anwendungen und Dienste funktionieren. Kurzzeitige Qualitätsprobleme wurden im Rahmen der Gruppendiskussionen zu keiner Zeit auf mögliche regulierende Eingriffe in den Datenstrom zurückgeführt. Solange Verbraucher sich dieser möglichen Ursache jedoch nicht bewusst sind können sie die möglichen Auswirkungen von Priorisierungen jedoch nicht ermessen. Dass ihr eigenes Nutzererlebnis unter priorisierten Diensten für andere Nutzer leiden könnte, kommt ihnen schlicht nicht in den Sinn.

Über die Studie: Die vollständige Studie wurde von WIK-Consult, YouGov und Deloitte in vier europäischen Ländern durchgeführt: Kroatien, Tschechische Republik, Griechenland und Schweden. Diese Länder wurden auf Basis einer Clusteranalyse nach Angebot und Nachfrage-Indikatoren über die 36 BEREC Mitglieds- und Beobachterstaaten gewählt. Ziel war es, eine breite Mischung der unterschiedlichen elektronischen Kommunikationsmärkte zu gewinnen. In den vier ausgewählten Ländern wurden im August und September 2014 insgesamt zunächst zwölf offline Fokusgruppendiskussionen (3 pro Land) durchgeführt. Im November 2014 wurden Online-Befragungen repräsentativ für die Internetnutzer in allen vier Ländern (n> 1000 in jedem Land) durchgeführt.
Über die deutschen Ergebnisse: Für die deutschen Ergebnisse befragte YouGov insgesamt 1006 Personen vom 29.05. bis 01.06.2015 mittels Online-Befragung. Die Ergebnisse wurden gewichtet und sind repräsentative für deutsche Internetnutzer (Alter 18+).
Lesen Sie auch den zweiten Teil "Netzneutralität: Der Verbraucher im Paragrafendschungel"
Zur Person:

Teil II der Kolumne "Netzneutralität: Der Verbraucher im Paragrafendschungel" erscheint am 25. Juni 2015.
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