Interview mit Ralf Strehlau, BDU-Präsident „Nicht selten entwickeln sich Beratungsthemen in Wellenbewegungen“
In der Beratung verschwimmen unserer Beobachtung nach aktuell inhaltlichen Grenzen – beispielsweise, indem große Consulting-Häuser ihr Angebot durch Akquisen auf Felder wie User Experience, E-Commerce u. a. erweitern, die man bislang nicht mit klassischer Unternehmensberatung verbindet. Paradebeispiel ist Accenture mit über 120 Akquisen in den vergangenen drei Jahren. Inwieweit ist dies ein Trend, der über Accenture hinausgeht? Machen Sie weitere Felder aus, auf denen gerade Bewegung ins Spiel kommt?

Ralf Strehlau: Unternehmensberatungen nehmen permanent neue Beratungsthemen in ihr Portfolio auf, das ist im Grunde genommen nicht neu. Aktuelle Themenfelder, in denen wir einen starken Ausbau von Beratungsangeboten und entsprechend auch Akquisen beobachten, sind neben ESG die Aspekte Digitalisierung, Big Data, Data Analytics, IT-Sicherheit oder digitale Kommunikation und Kampagnenfähigkeit. Die Großen kaufen dann gerne Beratungsboutiquen, die sich auf die entsprechenden Themen spezialisiert haben. Die Mittelständler lösen das eher durch Kooperationen. Hierfür bietet übrigens der Verband durch seine vielfältigen Formate für den Erfahrungsaustausch und der zeitlich begrenzten Zusammenarbeit bei Verbandsinitiativen wie den Thinktank-Projekten eine gerne genutzte Plattform.
Hinzu kommt: Nicht selten entwickeln sich Beratungsthemen in Wellenbewegungen.
Vor 25 Jahren gab es im BDU beispielsweise bereits einmal einen Fachverband Umweltmanagement, der sich allerdings nach einigen Jahren wieder auflöste. Seit einigen Jahren steigt die Nachfrage der Kunden nach Unterstützung wieder an, da Nachhaltiges Wirtschaften mittlerweile in Wirtschaft und Gesellschaft gleichermaßen einen hohen Stellenwert erhalten hat. Es verwundert daher nicht, dass viele große Beratungshäuser seit geraumer Zeit hier kräftig Kompetenzen aufbauen – nicht zuletzt auch anorganisch durch Zukäufe. Da passt es, dass der BDU seinen Mitgliedsunternehmen mit seinem neugegründeten Arbeitskreis ESG seit geraumer Zeit zu dem Themenspektrum wieder eine Plattform für den Erfahrungsaustausch und die Kooperationsanbahnung bietet.
Versuchen die großen Beratungshäuser am Ende, sich durch steten Ausbau ihres Leistungsportfolios als Full-Service-Dienstleister zu positionieren? Welche Auswirkungen hat das auf den Markt?
Ralf Strehlau: Das machen diese Unternehmensberatungen im Prinzip schon lange. Sie folgen damit dem Wunsch vieler Kundenunternehmen der One-Stop-Philosophie mit einem Ansprechpartner, klarer Ergebnisverantwortung und Koordinatorenfunktion für die unterschiedlichsten, laufenden Beratungsprojekte. Bei dieser Entwicklung hat die Digitalisierung besonders bei den großen Consultingfirmen als Katalysator gewirkt und dazu geführt, dass sie ihre technologischen Kompetenzen umfangreich ausgebaut haben. Gleichzeitig sind die Herausforderungen für die Kundenunternehmen immer komplexer geworden. Dies hat zum Beispiel den Umfang von fehleranfälligen Schnittstellen in den Projekten und damit auch die einhergehenden Risiken steigen lassen. Durch die Zusammenarbeit mit nur einem Fullservice-Anbieter versucht man diese seitens der Kunden zu minimieren und die Verantwortung zu bündeln.
Neben den Inhalten ändert sich auch häufig die Rolle, die Beratende gegenüber Kunden einnehmen. Welche Beobachtungen machen Sie in dieser Hinsicht?
Ralf Strehlau: Gute Beraterinnen und Berater beherrschen mehrere Rollen, die sie je nach Situation und Bedarf einnehmen und kompetent ausfüllen können müssen. Mal muss man mehr als Impulsgeber und Innovator agieren, mal als unabhängiger, neutraler Experte, mal ist die Rolle des persönlichen Coaches erforderlich, mal der Projektkoordinator mit Über- und Weitsicht gefragt. Das setzt unter anderem ein hohes Verständnis für die Bedarfe und Wünsche der Kunden sowie regelmäßiges Hinterfragen des eigenen Beratungsangebotes voraus.
Wer als Consultant heute noch auf reine Konzept- und Strategiepapiere setzt, wie sie vielleicht noch vor zehn Jahren häufiger anzutreffen waren, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt.
Heute sind in der Regel immer auch Umsetzungsanteile dabei und die Kundenunternehmen wünschen dies explizit. Bedeutet also: Consulting ohne Umsetzungskompetenz funktioniert nicht mehr.
Mittelständische Unternehmen haben eigene Herausforderungen und somit auch eigenen Beratungsbedarf. Welche Beobachtung machen Sie hier hinsichtlich sich wandelnder Inhalte und Rollen von Beratenden?
Ralf Strehlau: Mittelständler haben im eigenen Unternehmen meist nicht die erforderlichen Ressourcen, um die oft aufwändigen Transformationsprozesse vollumfänglich planen und umsetzen zu können. Das bedingt, dass die Geschäftsleitungen mittelständischer Unternehmen einen noch größeren Bedarf als Konzerne zeigen, eine neutrale Einschätzung von außen zu bekommen. Consultants sind hier häufig als Rat- beziehungsweise Impulsgeber gefragt und wechseln dabei in eine Coaching-Rolle.
Es gibt sie auch, die Kundenunternehmen, die durch Body Leasing über Consulting-Firmen Personalmangel abfedern oder zeitweise spezifische Herausforderungen bewältigen wollen. Hier spielen Beratende ja nicht eine andere Rolle, sondern verlassen ja faktisch ihren Beruf. Unternehmensberatungen sprechen darüber nicht gerne. Haben Sie eine Einschätzung, wie verbreitet dieses Phänomen ist und was tut es mit dem Beratungsberuf, wenn es weiter Schule macht?
Ralf Strehlau: In großen Transformationsprozessen benötigen unsere Kunden aus Wirtschaft, Industrie und Verwaltung viel Spezial-Know-how, Consultants steuern dies bei Planung und Umsetzung von Maßnahmen und Konzepten bei. Der Veränderungsdruck ist dabei hoch und oft fehlt eigenes Personal, das über die benötigten fachlichen und methodischen Kompetenzen verfügt. In den Projekten bleiben die Unternehmensberaterinnen und -berater in ihren neutralen und unabhängigen Rollen und unterliegen nicht der Weisungspflicht der Auftraggeber.
Nach unseren Erhebungen und auch gemäß dessen, was wir aus zahlreichen Gesprächen im Markt mitnehmen, spielt eine Arbeitnehmerüberlassung in der Regel keine Rolle. Es gibt Fälle, in denen – bei sehr operativen, echten Unterstützungsleistungen, etwa in der IT-Umsetzung – eine Zeitarbeit vereinbart wird. Dieses ist aber die Ausnahme, und das aus nachvollziehbaren Gründen: Die überlassenen Mitarbeitenden stehen dem Consultingunternehmen dann nicht mehr für andere Projekte zur Verfügung.
Zudem wird die Marke der Beratung grundsätzlich geschädigt, denn mit der Leiharbeit-Funktion verliert sie neben der fachlichen ihre weitere wesentliche Rolle, nämlich die des unabhängigen, oft auch kritischen Begleiters.
Oben sprachen wir davon, dass Beratungsunternehmen neue Märkte entdecken und häufig durch Akquisen in sie vorstoßen. Machen Sie auch die Beobachtung, dass beratungsfremde Dienstleistungsberufe wie Marketing-Agenturen, Rechtsanwälte, Steuerberater versuchen, sich einen Teil vom Kuchen der Beratungs-Budgets abzuschneiden und damit auch Erfolg haben?
Ralf Strehlau: Einen umfassenden Versuch, sich auch im Beratungssegment zu etablieren, haben vor ein paar Jahren einige größere Werbeagenturgruppen unternommen. Aber das war nicht sehr erfolgreich. Im Gegenteil: Große Consultingfirmen haben den Spieß umgedreht und – wie beispielsweise McKinsey, BCG, Accenture oder Capgemini – im größeren Stil Digital-Marketing-Agenturen akquiriert.
Bei den Big Four und ambitionierten Mittelständlern aus der Wirtschaftsprüfung sehen wir ja schon länger, dass ergänzend zum angestammten Geschäftsmodell starke Consulting-Zweige aufgebaut worden sind. Dieser Trend wird auch anhalten. Bei Steuerberatern und Rechtsanwälten beobachten wir das eher selten. Das sind höchstens Einzelfälle, in denen ein Markteintritt im Consulting in einem thematisch eng gefassten Bereich gelingt, am ehesten noch im Insolvenz- und Sanierungsumfeld. Das hat unserer Einschätzung nach damit zu tun, dass diese Berufe den umfangreichen betriebswirtschaftlichen und technologienahen Werkzeugkasten von Consultants nur schwerlich aufbauen können.
Hinzu kommt, dass sie in der Regel nicht über langjährige Kontakte und den notwendigen Zugang in die Top Level-Ebene der Kunden verfügen, wie dies bei Unternehmensberatungen der Fall ist.
Teilen Sie die Einschätzung, dass im Zuge des enormen Modernisierungsbedarfes der öffentlichen Verwaltung Beratungsunternehmen sich auch auf diesem Feld stärker engagieren werden?
Ralf Strehlau: Consulting im öffentlichen Sektor bewegt sich in einem speziellen Rahmen und folgt etwa hinsichtlich der Honorierung, des hohen administrativen Aufwandes im Vergabeprozess, der Durchführung der Projekte und der starken Einflüsse von wechselnden politischen Konstellationen eigenen Gesetzen. Nicht wenige Unternehmensberatungen bleiben daher lieber in der Regel im privaten Sektor.
Der Beratungsbedarf ist allerdings in hohem Maße vorhanden, das hat nicht zuletzt der Mangel an digitalisierten Prozessen in den Behörden im Zuge der Corona-Pandemie deutlich gezeigt. Es wird aber in den nächsten Jahren spannend zu beobachten sein, wie hohe Budgets Ministerien, Kommunen und öffentliche Unternehmen für Unterstützungsleistungen durch Consultants investieren werden. Wir haben ein wenig die Befürchtung, dass die aktuellen finanziellen Belastungen des Staates durch den Ukraine-Krieg und seine Folgen oder durch die noch nicht beendete Corona-Pandemie zu Lasten der Modernisierung der Verwaltung gehen könnten.
Kurzum: Die zur Verfügung gestellten Mittel wachsen womöglich deutlich langsamer als der tatsächliche Bedarf. Das darf allerdings nicht passieren.
Welche Entwicklungen sehen Sie denn für die nächsten fünf bis zehn Jahre? In welchen Bereichen des Beratungsmarktes werden die Grenzen noch ein bisschen ausfasern?
Ralf Strehlau: Losgelöst von oftmals nicht absehbaren Auswirkungen von Krisenszenarien – wie zuletzt bei der Corona-Pandemie – sehe ich unsere Branche weiter auf einem klaren, starken Wachstumspfad. Die Rolle der Consultants als Management Advisor wird aufgrund der wachsenden Komplexität in den absehbar anhaltenden Krisenzeiten an zusätzlicher Bedeutung gewinnen. Bei den Vermittlungsplattformen im Consulting, die besonders für Einzelberater eine Relevanz besitzen, erwarte ich bei zunehmender Professionalität eine Marktkonsolidierung. Weiterhin werden die Anforderungen an die transparente Trennung von Wirtschaftsprüfung, Steuerberatung und Consulting nach unserer Einschätzung steigen. Und bei der Betriebsführung der Unternehmensberatungen wird unter anderem die Frage, wie sich die weitere Flexibilisierung der Arbeitszeitmodelle im Hinblick auf die unterschiedlichen Anforderungen bei Kunden, Mitarbeitenden und unternehmerischen Notwendigkeiten optimal gestalten lässt, eine zentrale Rolle einnehmen.
Das Interview führte unser Redakteur Alexander Kolberg.
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