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- Personalentwicklung ist nicht systemrelevant - Warum sich Weiterbildung neu erfinden muss
Boris Grundl, Managementtrainer und Autor Personalentwicklung ist nicht systemrelevant - Warum sich Weiterbildung neu erfinden muss

Das Human Resource Management widmet sich dem menschlichen Potenzial in einem Unternehmen. Hier geht es darum, alle zur Verfügung stehenden menschlichen Leistungspotenziale effizient zu nutzen und zu fördern, Diskriminierung auszuräumen, Vielfältigkeit zu erkennen und einzusetzen. Alles mit dem Ziel: den Unternehmenszweck erfüllen und jedem die Möglichkeit geben, der beste Mensch zu werden, der er sein kann. Also mentales Wachstum durch mentale Anstrengung. Eine schöne Idee.
Leider spiegelt sich diese Idee heute nicht mehr in der Realität. Warum? Seit dem Jahr 2000 etwa befinden wir uns im digitalen Informationszeitalter. Durch neue Technologien, Globalisierung und die demografische Entwicklung rückte in der Weiterbildung zunehmend der Mensch und sein Anteil an der Wertschöpfungskette in den Mittelpunkt. In der Analyse seiner Psyche kam zum Vorschein, dass der Mangel an Selbstwert einen enormen Einfluss auf die Leistungsfähigkeit und -freude eines Mitarbeiters hat. Die Folge: HR-Abteilungen konzentrierten sich mehr und mehr darauf, Menschen und ihren Selbstwert zu bestätigen. Das Ziel: "Du bist gut, so wie du bist!" Also mehr Bestätigung als Wachstum.
Inzwischen hat sich die Personalentwicklung in diesem Markenkern – "Bestätigung des Status quo" –verrannt und festgefahren. Wie ein Lastwagen im Kiesbett. Mit einer wertvollen Ladung, doch die Räder drehen durch. Tolle Inhalte werden vermittelt, aber die notwendigen Veränderungen nicht umgesetzt. In vielen Alltagssituationen und Seminaren geht es heute primär darum, den Menschen in seinem Ist-Zustand zu bejahen. Mit der Folge, dass Menschen mental nicht wachsen. Das geistig Fordernde und Anstrengende wird mit ungesundem Distress gleichgesetzt. Die schnellen Veränderungen in den Märkten treffen somit auf mental schwache Menschen. Kein Wunder, dass die Anzahl der mentalen Krankheiten ständig zunimmt. Doch Berater, Trainer, Coaches sind erzogen worden, Chefs und Mitarbeitern ein gutes Gefühl zu geben. Das ist Schein-Coaching. Das Problem: Suchen HR-Abteilungen nach Bestätigungsduschen, bieten Experten genau das immer mehr an. Wachstum bleibt auf der Strecke und die Abwärtsspirale beschleunigt sich.
Gegenseitige Bedürfnisse ziehen sich an
In der Praxis sieht das dann so aus: Die Budgetvergeber rufen laut "Bitte bestätige mich", die Anbieter antworten "Bei Buchung bestätige ich dich". So gehen die Aufträge an Beratungen, Trainer, Coaches, die genau das tun – die Daseinsberechtigung der Vergeber bestätigen und den Beteiligten schnell gute Gefühle vermitteln. Aufträge werden aufgrund persönlicher Nähe vergeben – und nicht wegen herausragender Wirkung. Für solche Anbieter sind Sympathie und Netzwerken von entscheidender Bedeutung. It's a people business: Wer kennt, mag und empfiehlt wen? Wer als Coach an Kunden kommen will, muss die Spielregeln befolgen: "Gib mir gute Emotionen und stabilisiere meine Daseinsberechtigung. Dann steht der Deal." Schwache Einkäufer trainieren Dienstleister darauf, das Gefühl zu vermitteln, als hätte man nachgedacht. Denn dann wird der Anbieter anerkannt und gebucht. Soloberater, die das perfekt bedienen, gibt es wie Sand am Meer.
Wer die HR-Abteilung in der Angebotsphase hingegen zum Nachdenken bringt, ihr Selbst klug infrage stellt, wird vor der Tür stehengelassen – weil unbequem. Hier herrscht das Motto: "Wasch die anderen, mach mich aber nicht nass." Das zeigt meine über 20-jährige Erfahrung erfolgreich am Markt. Echte geistige Herausforderung, tieferes Nachdenken und mentales Anstrengen sind nur dann gefragt, wenn die Budgetvergeber all das schon selbst erfahren und erkannt haben. Das ist vor allem dann der Fall, wenn ihnen Verantwortung wichtiger ist, als beliebt zu sein. Es ist auffällig, dass es sich bei diesen Menschen eher um die Topentscheider außerhalb der HR handelt, meist Geschäftsführer mittelständischer Unternehmen. Doch es gibt sie auch innerhalb der HR-Abteilungen. Aus meiner Erfahrung suchen etwa 20 Prozent "Bestätigung durch Wachstum" statt "Bestätigung des Status quo". Zum Glück werden es mehr.
Aktuell müssen Anbieter ständig neue Modewellen kreieren, um im Geschäft zu bleiben. Und das tun sie dann auch. Schließlich geht es ja nur um das Anfangsgefühl der Begeisterung. Es geht darum, zu denken, man hätte nachgedacht – nicht um tatsächliche geistige Anstrengung. So wächst der Wunsch nach neuen, oberflächlichen Themen, die einem das Gefühl geben, wahnsinnig wichtig und geschult zu sein. Auf die Modewelle folgt das Buzzword: New Work, Agilität, Resilienz, Work-Life-Balance, Game Changer ... und so weiter. Wer die neuen Begriffe schnell adaptiert und benutzt, liegt ganz weit vorne und beeindruckt mit seinem Wissen.
Status und Bestätigung, Kennen statt Können
Es ist doch so: Jede Firma, jeder Bereich, jedes Produkt und jeder Mensch haben ihre Daseinsberechtigung. Bleibt die gewünschte Wirkung aus, wird die Daseinsberechtigung infrage gestellt. Wer als Anbieter oder Einkäufer von Beratungsleistung im Bestätigungsstrom mitschwimmt, schwächt deren Daseinsberechtigung mehr und mehr. Diese Entwicklung ist auch der Grund, warum Unternehmen bei finanzieller Enge als Erstes das Budget für Weiterbildung und Beratung kürzen – weil deren Wirkung nicht überzeugt, weil es eben "Nice-to-have" und kein "Need-to-have" ist.
Wie können Unternehmen und Anbieter diese Abwärtsspirale beenden? Im ersten Schritt gilt es zu erkennen, wie sehr der Markenkern "Bestätigung des Status quo" eine lähmende Schicht erschaffen hat. Nach dieser intellektuellen Einsicht sollte eine emotionale Anerkennung dieses Zustandes hergestellt werden. Erst dann ist der Aufbruch zu neuen Ufern möglich. Jeder, der in der Personalentwicklung arbeitet, könnte sich beispielsweise fragen, was seine wirkliche Daseinsberechtigung ist – heute und in zehn Jahren, ohne Wenn und Aber, ohne moralische Vorwürfe an andere oder ans System. Auch die Weiterbildungsanbieter müssen sich infrage stellen. Um Aufträge zu bekommen, haben sich viele zu sehr der Bestätigungssucht der Budgetvergeber unterworfen und sind zu Feedbackbogenglänzern und Gutfühlberatern ohne Substanz geworden.
Statt auf die "Bestätigung im Hier und Jetzt" könnte HR sich auf die "Bestätigung für geistiges Wachstum" konzentrieren. Das ist ein kleiner Unterschied mit unglaublich großer Wirkung! Das ist die zukünftige Daseinsberechtigung der Personalentwicklung. Damit die Entwicklung des Menschen genauso ernst genommen wird wie die Anschaffung einer Maschine. Entweder die Disruption erfolgt jetzt freiwillig oder bald unter noch mehr Zwang.
Über den Autor

Seit 30 Jahren ist er vom Hals abwärts gelähmt und startete als Sozialhilfeempfänger. Heute lebt der zweifache Familienvater ein erfülltes, selbstbestimmtes und finanziell freies Leben in Spanien und Deutschland. Sein Antrieb: Möglichst vielen dabei helfen, dass sie die besten Menschen werden, die sie sein können. Boris Grundl hat die Themen Verantwortungsbewusstsein, mentale Haltung und Leadership in der Tiefe erforscht und systematisch erlernbar gemacht. Das Grundl Leadership Institut sorgt dafür, dass Menschen und Organisationen sie umsetzen können.
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