Philippe Gillen, Negotiation Advisory Group Rationale(re) Verhandlungen mit Hilfe Künstlicher Intelligenz

Philippe Gillen berichtet über Erfahrungen mit einem Werkzeughersteller. (Bild: picture alliance / Franziska Kraufmann/dpa | Franziska Kraufmann)
Menschen machen Fehler. Der Mensch funktioniert nicht wie ein Automat. Emotionen und Stress sind natürliche Reaktionen gerade in Verhandlungen, bei denen es um viel geht. Und wenn Emotionen und Stress das Verhalten in schwierigen Situationen beeinflussen, führen Verhandlungen zu suboptimalen Ergebnissen.
Deshalb liegt der Gedanke nahe, sich bei Verhandlungen von intelligenten Maschinen unterstützen zu lassen, um den Mensch als Fehlerquelle auszuschalten. Doch noch ist das Science-Fiction. Aber wir, das heißt die Negotiation Advisory Group (NAG), haben jetzt in der Verhandlungsberatung einen entscheidenden Schritt in die Zukunft getan: Wir haben ein Tool auf Basis Künstlicher Intelligenz entwickelt, mit dem wir bilaterale Verhandlungen zu optimalem Erfolg führen.
Die Herausforderung: „One-Shot-Verhandlungen“, die nicht scheitern dürfen
Bilaterale Verhandlungen zeichnen sich dadurch aus, dass man kurzfristig keine gute Alternative hat und man auf diesen einen Anbieter angewiesen ist, weshalb auch keine Wettbewerbsauktion möglich ist. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von „One-Shot-Verhandlungen“, weil man sich in diesen kein Scheitern erlauben darf.
Das betrifft natürlich ganz spezielle Situationen, etwa wenn sich wie jetzt in der Rezession ein Unternehmen refinanzieren muss und deshalb mit seiner Hausbank über einen Großkredit verhandelt.
Wie hart kann man da verhandeln, ohne dass die Verhandlung schief geht? Wie weit muss man den Forderungen der Gegenseite entgegenkommen? Bei einem 100-Millionen-Euro-Kredit kann das bei einem um wenige Zehntelprozentpunkte besseren Verhandlungsergebnis schon einen hohen Millionenunterschied ausmachen. Aber wenn die Verhandlung schief geht, ist die Existenz des Unternehmens gefährdet.
Tatsächlich bremst die Angst vor dem unbekannten Risiko eines Fehlschlags das eigene Verhandeln, so dass man nicht das Optimale herausholen kann. Notwendig ist also die Beurteilung des Risikos einer Verhandlungsstrategie.
Und da ist Künstliche Intelligenz ein wichtiges Instrument, um die gegnerische Risikobereitschaft rational zu bewerten und die eigene darauf abzustellen.
Large Language Models (LLMs) wie zum Beispiel Chat-GPT bieten in der Verhandlungsvorbereitung die Möglichkeit, die Verhandlung zu durchdenken und zu simulieren, um die mit hoher Wahrscheinlichkeit beste Strategie herauszufiltern.
Case Study: Jahrespreisverhandlung eines Werkzeugherstellers mit einem Lieferanten
Unser Fall: Ein großer Werkzeughersteller verhandelt mit einem Verpackungsproduzenten über einen Multimillionenauftrag. Der Verpackungsspezialist ist sein Bestandslieferant und fordert für das Jahr 2023 eine nachträgliche Preiserhöhung um 22 Prozent sowie für 2024 eine um zehn Prozent. Für den Werkzeughersteller eine schwierige Situation. Denn die Forderungen würden insgesamt zu Mehrkosten in Höhe eines hohen zweistelligen Millionenbetrags führen, die er nicht einfach auf seine Kunden abwälzen kann.
Und Alternativen hat er nicht. Denn aufgrund der Disruptionen in der Lieferkette bei Verpackungen hat sich die Situation auf dem Markt gedreht. Das Angebot ist knapp und andere Anbieter sind nicht zur Stelle. Und für manche Spezialverpackungen kann er aufgrund von Schutzrechten nicht einfach zu einem anderen Lieferanten wechseln.
Der Verpackungsproduzent hat seine Strategie angesichts der für ihn günstigen Machtverhältnisse auf dem Markt geändert:
Ihm geht es nicht mehr in erster Linie darum, seinen Absatz langfristig auszuweiten und abzusichern, sondern kurzfristig den Gewinn zu maximieren.
Für die Verhandlung stellen sich dem Werkzeughersteller also zwei Ziele: die hohen Mehrpreisforderungen abzuwehren und gleichzeitig die Versorgungssicherheit – insbesondere für die Spezialverpackungen – zu gewährleisten.
Bislang nur wenige Verzweigungen eines Entscheidungsbaumes
Ein herkömmliches Vorgehen für die Ausarbeitung einer optimalen Verhandlungsstrategie ist in dieser Situation, die Positionen der anderen Seite für einige denkbare Verhandlungsszenarien mit Hilfe eines Entscheidungsbaums mit den wichtigsten Stakeholdern durchzuspielen und dies mit ihrem Verhalten in der Vergangenheit zu kombinieren, um daraus die aktuelle Risikobereitschaft und wahrscheinliche Strategie vorherzusagen.
Doch in der Verhandlung geht es um sehr viele Vertragsbestandteile: Vertragsdauer, Zahlungsbedingungen, Mindestmengen, Materialpreisklauseln, Incoterms (Internationale Handelsklauseln), Inflationsklauseln, Kapazitätsgarantien, Qualitätspönalen, Mengengarantien und so weiter.
Berücksichtigt werden müssen weiterhin Preisstatistiken, Marktmachtverhältnisse und -entwicklungen, mögliche neue Vertragsdauern, die unterschiedlichen Verhandlungsstrategien (zum Beispiel aggressiv, kooperativ, offensiv, defensiv), das Verhalten in der Vergangenheit sowie der Fokus auf Versorgungssicherheit und Abwehr der Preiserhöhung.
Angesichts dieser Komplexität ist bislang nur eine sehr begrenzte Zahl von Rollenspielen möglich.
Man musste sich auf wenige Verzweigungen des Entscheidungsbaums beschränken. Mit der Folge einer suboptimalen Verhandlungsstrategie.
Neu: Tausende Verhandlungssimulationen in kürzester Zeit
Auf Basis der LLM-Technologie haben wir jetzt ein Tool entwickelt, das wir DeepBlueGPT nennen. Das Revolutionäre für uns daran: Es kann alle Verzweigungen eines Entscheidungsbaums relativ schnell simulieren. Das Tool spielt die Verhandlungsszenarien zwischen den Playern tausendfach innerhalb von ein paar Stunden durch.
Der Vorteil von LLMs wie Chat-GPT: Die Player tauschen wirklich Nachrichten aus (anders als ein Bot, der mathematisch nur auf Zahlen reagiert), so dass man erkennen kann, welche Argumente überzeugt haben, welche Hebel gut funktioniert haben und welche weniger gut. Dabei nimmt die KI unterschiedliche Rollen ein und simuliert die Kommunikation zwischen den Parteien in den Verhandlungen. Auf diese Weise können die potenziellen Reaktionen, Gegenargumente und Strategien der anderen Partei antizipiert und die eigene Verhandlungsstrategie entsprechend angepasst werden.
Gleichzeitig werden die Reaktionen der Gegenseite an Reaktion aus der Vergangenheit angeglichen um zu versichern, dass man am Ende nicht in eine sterile „Roboterverhandlung“ rutscht.
Dies ermöglicht eine tiefgehende Analyse und ein besseres Verständnis für die Dynamiken und möglichen Wendepunkte in einer Verhandlung. Durch das Durchspielen verschiedenster Szenarien und Rollen können umfassendere und realitätsnahe Einsichten zu einzelnen Hebeln oder übergeordneten Strategien gewonnen werden, als es durch einfache Rollenspiele oder mathematische Modelle möglich wäre. Dadurch wird der Verhandlungsprozess nicht nur transparenter, sondern auch strategisch fundierter und letztendlich erfolgreicher.
Wir simulieren also von Details der Interaktion bis hin zum gesamten Verhandlungsprozess und erkennen dadurch, welcher Verhandlungsmodus mit welcher Wahrscheinlichkeit zu welchem Ergebnis führt. Daraus lässt sich ableiten, welche Verhandlungsstrategie am erfolgreichsten und wie groß die Eintrittswahrscheinlichkeit eines bestimmten Verhaltens ist.
Ergebnis: Cost Avoidance und Einsparungen deutlich unter Marktniveau
Die Simulation ergab die mit einer hohen Wahrscheinlichkeit optimale Verhandlungsstrategie für den Werkzeughersteller. Diese war dann auch in der Verhandlung erfolgreich. Indem der Werkzeughersteller das Preisrisiko des Verpackungsproduzenten bei der Beschaffung von Rohmaterialien und Vorprodukten durch Preisgleitklauseln fair berücksichtigte, konnte er ihn von seinen aggressiven Preisforderungen abbringen und seine Mehrpreisforderungen um mehr als die Hälfte reduzieren – bei gleichzeitiger Sicherstellung einer längerfristigen Belieferung. Durch die dadurch erzielte Kostenvermeidung und Einsparungen konnte ein Zustand erreicht werden, der preislich deutlich unter dem Marktniveau gelandet ist und mit dem sich dann trotzdem auch der Hersteller durch genügend Sicherheit wohlgefühlt hat. 48 Millionen Euro.
Ausblick: viele Anwendungsgebiete
Das von NAG entwickelte Tool hat über „One-Shot-Verhandlungen“ im Einkauf oder Konditionsverhandlungen mit Banken hinaus viele Anwendungsmöglichkeiten. Denn durch die tausendfache Simulation lassen sich Strategien schnell und gut testen und verfeinern, Argumentationsketten überprüfen und Verhandlungsfehler vermeiden. Einsetzen lässt sich das Tool etwa wenn es um komplexe bilaterale oder auch trilaterale Koalitionsverhandlungen in der Politik geht oder wenn wie bei Betriebsratsverhandlungen viele Stakeholder zu berücksichtigen sind. DeepBlueGPT ist ein Instrument, das Entscheidungen weniger von Intuition und Zufällen abhängig macht und mehr Rationalität in den Verhandlungsprozess bringt.
Natürlich darf nicht außer Acht gelassen werden, dass der menschliche Faktor gerade in bilateralen Verhandlungen eine wichtige Rolle spielt und nach wie vor nicht vollständig durch Algorithmen oder LLMs ersetzt werden kann. Die Verantwortung bleibt weiter zu 100% bei den Verhandlungsführenden, jedoch kann ein Werkzeug wie DeepBlueGPT dabei unterstützen, wirklich alle möglichen Verästelungen der eingesetzten Strategien und Heben zu überblicken.
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