Kolumne Schere im Kopf? Entscheidungen zwischen Moral und Manipulation

Ja, die Krise der Ökonomie als Wissenschaft ist inzwischen ebenso oft beklagt wie die (nicht vorhergesagte) Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007. Dass das erkenntnisleitende Bild vom "homo oeconomicus" eher nicht mit den Beobachtungen der Wirklichkeit in Übereinstimmung zu bringen ist, dürfte inzwischen Konsens sein.


Von Prof. Dr. Susanne Knorre, Knorre Consulting

Ängste, Irrationalitäten und – natürlich – Fehlentscheidungen aller Art prägen das Handeln von Akteuren in Märkten und Organisationen. Doch welche Schlussfolgerungen daraus zum Beispiel für die Möglichkeiten und Grenzen von Steuerungskonzepten zu ziehen sind, ist weiterhin ungeklärt. Paradoxerweise ist es jetzt ausgerechnet die Verhaltensökonomie, die doch der allzu mathematisch geprägten BWL gerade erst auf die sozialwissenschaftlichen und psychologischen Sprünge geholfen hat, die nun ihrerseits das gesellschaftliche Heil in der möglichst vollständigen Berechnung menschlicher Präferenzen, ja des individuellen Handelns sucht.

Angespornt von dem Versprechen von Big Data, für alles den passenden Datensatz zu haben, filtern Dienstleister mit einem schlauen Algorithmus alles über Kundenverhalten heraus, das Unternehmen für das perfekt individualisierte Angebot brauchen. Kunden, Geschäftspartner, Studierende oder einfach Bürger – ganz gleich um welche Akteure es geht, das perfekte Verhalten scheint programmierbar, sobald man weiß, wer sich wie in welcher Situation verhält bzw. verhalten hat. Digital Marketing und Customizing für schnelle Kaufentscheidungen, Compliance durch clevere handlungsbezogene Anreizsysteme, nachhaltiges Konsumieren durch Nudging – die Schlagwörter sind gesetzt und besetzt. Wer was im Management auf sich hält, redet der Neurowissenschaft das Wort. Entscheidungsarchitekturen werden ergründet, selbst die sozialen Interaktionen, die mit Entscheidungen einhergehen, werden mittels laufender digitaler Datenerhebungen sichtbar gemacht und für Verhaltensvorhersagen genutzt. Schnelles, intuitives Entscheiden in die sozial oder renditemäßig präferierte Richtung ohne viel energieverbrauchendes Nachdenken ist das Leitbild dieser behaviouristischen Denkrichtung. Verkürzt formuliert: Engineering ersetzt Führen.

Vielleicht rächt sich aber auch nur, dass es im Englischen und damit in der Managementsprache nicht die feine Unterscheidung zwischen Überreden und Überzeugen gibt. Persuasion ist alles in einem – aber ist es das? Eher nicht. Schaut man auf einen anderen aktuellen Entwicklungspfad des Managements, dann sieht man dort genau den gegenteiligen Denkansatz. Kein Beitrag über die Deutsche Bank ohne den Hinweis auf deren kulturelle Probleme, kein Seminar für Führungskräfte ohne den Hinweis auf die Relevanz von persönlichem Commitment, vom Einbringen der eigenen Person mit ihrem Ethos in die Führungsbeziehungen. Das Sinnerleben gilt unstreitig als Voraussetzung für Mitarbeiterengagement. Die normative Unternehmensführung ist wieder in den Lehrplänen, Leadership durch Visionen und Leitbilder haben ebenso wieder Hochkonjunktur wie die Proklamation von Unternehmenswerten; im politischen Kontext diskutieren wir wieder den "clash of civilizations" und die Frage der Leitkultur, Infrastrukturprojekte ohne qualitative Bürgerbeteiligung gelten schon aus normativen Gründen als undurchführbar.  

Dies sind mithin alles Konzepte, die davon ausgehen, dass menschliches Verhalten im organisationalen bzw. sozialen Kontext auf wertgebundenen, manchmal affektiven, manchmal rationalen, immer aber individuellen Entscheidungen basiert, die von involvierten Personen selbstbestimmt getroffen werden. Überzeugen, nicht überreden ist die damit verbundene Führungsaufgabe. Grundlage ist ein Menschenbild, das vom "homo oeconomicus" die Idee der Unantastbarkeit der individuellen Persönlichkeit mitnimmt, ihr aber die Fehlerhaftigkeit zugesteht. Mehr noch: Entscheidungen gilt es zu akzeptieren, selbst dann wenn sie womöglich nicht dem gewünschten, als vorteilhaft empfundenen Ergebnis entgegenlaufen. Dies wiederum ist so ziemlich das Letzte, das ein "Social Engineer" akzeptieren würde und das erste, was ein (postheroischer) "Leader" seinem Gegenüber zugesteht.

Berater verdienen gut auf der einen oder auf der anderen Seite. Dennoch ist es nicht nur intellektuell anregend, darüber nachzudenken, wie die beiden Denkrichtungen bzw. die gegensätzlichen Menschenbilder zueinander stehen. Schließlich gibt es empirische Evidenz für beides. Haben wir also alle die berühmte Schere im Kopf? Wollen und sollen wir manipuliert und gleichzeitig überzeugt werden? Auch aus Beratersicht bedeutet es einen Mehrwert, die Gleichzeitigkeit der beiden Konzepte einordnen zu können - schon allein, um die eigene Position zu bestimmen. Und so ist es vielleicht eine gute Idee, die Konzepte auf der Zeitachse zu verorten. Erst die normativen Fragen klären, dann funktionieren die Methoden des Behaviourismus noch viel besser? Oder sind grundsätzlich Trade-offs anzunehmen? Funktioniert also z.B. Nudging nur dann, wenn es gerade keine gesellschaftliche Wertdebatte gibt bzw. verdrängt die normative Diskussion die Option der schnellen intuitiven Entscheidung? Viel Arbeit für die Forschung und nicht zuletzt Berater sind aufgerufen, ihre Beobachtungen zur Verfügung zu stellen. Die Suche nach dem Nachfolgemodell für den "homo oeconomicus" hat gerade erst begonnen.

Zur Person:

Prof. Dr. Susanne Knorre arbeitet seit mehr als 12 Jahren als selbständige Unternehmensberaterin mit den Schwerpunkten Strategieentwicklung, Change Management und Organisationskommunikation. Seit 2007 ist sie nebenberufliche Professorin an der Hochschule Osnabrück. Susanne Knorre verfügt über langjährige Führungserfahrung in Wirtschaft und Politik. Von 2000 bis 2003 war sie Wirtschaftsministerin in Niedersachsen. Sie ist Mitglied in Aufsichtsräten namhafter deutscher Unternehmen.

www.knorre-consulting.com 

 

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