Interview mit Prof. Dr. Volker Nissen, TU Ilmenau „Verglichen mit der Entwicklung des Autos stehen wir bei digitalen Beratungstechnologien heute ungefähr im Jahr 1915“

Die Einführung digitaler Beratungsformate wie ChatBots, generative KI und Process Mining sollten Unternehmensberatungen innerhalb einer digitalen Gesamtstrategie angehen. Zu diesem Schluss kommt Prof. Volker Nissen im Interview mit CONSULTING.de, in dem er auch auf die wachsende Rolle von Consulting Self Services und die Bedeutung von Explainable AI eingeht.

Prof. Dr. Volker Nissen ist Fachgebietsleiter Wirtschaftsinformatik für Dienstleistungen an der TU Ilmenau.

Herr Prof. Nissen, an der TU Ilmenau beschäftigen Sie sich in Ihrem Fachgebiet Wirtschaftsinformatik für Dienstleistungen unter anderem mit der Digitalisierung des Beratungs-Geschäfts. Inwieweit spielt das Thema „KI in der Beratung“ in Ihrer Forschung eine Rolle?

Volker Nissen: Grundsätzlich muss man zwei Aspekte unterscheiden: Einerseits gibt es Künstliche Intelligenz als relativ neues Beratungsthema, mit dem je nach Branche der Kunden spezifische Fragestellungen und Use Cases verbunden sind. Berater müssen sich hier inhaltlich aufstellen und entsprechende Kompetenzen aufbauen. Dieser Vorgang der Entwicklung von Beratungsfeldern ist, betrachtet man die Historie des Beratungsgeschäfts, allerdings nichts Neues. Viele Häuser verfügen dafür über eigene Innovationszentren.

Andererseits gibt es – und damit beschäftigen wir uns in unserer Forschung – KI als Teil der Virtualisierung von Beratungsleistungen. Wie können heute physische Prozesse in den digitalen Raum übertragen werden? Wir unterstützen Consultancies dabei, entsprechende Potenziale in den eigenen Portfolios zu identifizieren und geben Hinweise für die sinnvolle Integration digitaler Lösungen in das Beratungsgeschäft. Bezogen auf den Einsatz „Künstlicher Intelligenz“ in Beratungsprozessen bewegen wir uns hier auf einem weiten Feld, das es anspruchsvoll für Beratungen macht, sich dem Thema zu nähern.

Inwiefern? Wie sollten Unternehmensberatungen vorgehen, wenn sie mit dem Gedanken spielen, „Künstliche Intelligenz“ in die eigenen Prozesse zu integrieren?

Volker Nissen: Zunächst einmal sollten Consultancies an dieser Stelle keine Me-too-Projekte starten, sondern klug analysieren: Wo sind für uns Potenziale? Wo Risiken? Denn KI in der Beratung bewegt sich in einem sehr breiten Spektrum, das von qualitativ hochwertigen Assistenzsystemen bis hin zur vollständigen Automatisierung von Beratungsprozessen reicht. Das Thema sollte auf jeden Fall als Teil einer umfassenden Digitalisierungsstrategie angegangen werden.

Im Zuge der Strategieentwicklung müssen sich auch die Geschäftsführungen zunächst einmal selbst qualifizieren. Gleiches gilt für alle Beratende, die meiner Meinung nach auf allen Beratungsfeldern IT-affiner werden müssen.

Dabei gilt: Nicht jeder Berater muss programmieren können, gerade kleinere Beratungshäuser müssen Lösungen auch nicht selbst entwickeln. Unternehmensberatungen sollten Entwicklungen bei Kunden, Branchen und Technologien verfolgen, wissen, welche Lösungen es bereits gibt und vorrangig nutzen, was auf dem Markt ist.

Anwendungen wie ChatBots, generative KI, Process Mining, Data Mining existieren für mich in einem Topf als unterschiedliche digitale Beratungstechnologien für verschiedene Einsatzgebiete. Es gibt auch weitere digital-basierte neue Beratungsmodelle ohne KI-Bezug, wo viel passieren wird. Hierzu gehören beispielsweise Formen von Crowdsourced Consulting sowie kurzfristige Expertenberatung über digitale Plattformen (sogenanntes Nanoconsulting).

Um zu entscheiden, welcher Technologie-Mix für sie der richtige ist, sollten Beratungen einen doppelten Ansatz wählen und sowohl top-down als auch bottom-up arbeiten.

Heißt: Einerseits eine Strategie mit Zielen, einen Umsetzungsplan entwickeln und diesem folgen, andererseits Dinge auch einfach tun und Erfahrungen sammeln – beispielsweise einen ChatBot oder ein rein digitales Assessment aufbauen. So kann man klare Vorstellungen entwickeln, wohin die Reise weiter gehen soll.

Welche Use Cases für Künstliche Intelligenz in Unternehmensberatungen erkennen Sie? Welche Lösungen halten Sie heute schon für besonders ausgereift?

Volker Nissen: In der Analysephase von Projekten haben KI-Anwendungen und andere digitale Beratungstechnologien die meisten Potenziale. Gerade in Strategieberatungen und im Rahmen von Consulting Self-Services werden sie an dieser Stelle wichtig. Hard Facts kann man heute schon vielfach automatisiert analysieren, Berater können sich dann in den Projekten besser auf die sozialen Umfeldfaktoren sowie kreative Aspekte konzentrieren.

Wenn Sie beispielsweise in der Prozessberatung arbeiten, sollten Sie Ahnung von Process Mining haben und solche Tools in Ihre Beratungsleistung integrieren.

Auch gibt es bereits KI-basierte Marktplätze für die Vermittlung von Projekten und Dienstleistern, die Anforderungen und Fähigkeitsprofile automatisch abgleichen und Empfehlungen aussprechen. Solche Tools können auch für das interne Staffing genutzt werden: Welche Berater mit welchen Qualifikationen geeignet und gerade verfügbar?

Kreative Lösungsfindung und Empathie gelten heute noch als Domäne des Menschen. Bei welchen Aufgaben sehen Sie auf absehbare Zeit noch Grenzen für den Einsatz von KI in Beratungsunternehmen?

Volker Nissen: Ich bin sicher: Mittelfristig werden KI-basierte Ansätze auch in der Lösungsfindung eingesetzt werden – eben auch dort, wo es auf Kreativität ankommt. Wir müssen uns vor Augen halten:

Verglichen mit der Entwicklung des Autos stehen wir bei digitalen Beratungstechnologien heute ungefähr im Jahr 1915.

Und die aktuellen Lösungen der ersten Generation haben bereits einen hohen Reifegrad. Die Potenziale sind aber lange noch nicht ausgeschöpft. Neben dem Technologieeinsatz werden die klassischen Formen der Unternehmensberatung auch in Zukunft wichtig bleiben. Persönlicher Kontakt, Vertrauensbildung und Empathie sind auch zukünftig noch wichtige Assets im Consulting.

Stichwort Automatisierung. Inwieweit wird KI Ihrer Einschätzung nach menschliche Beratende ersetzen? Werden in signifikantem Umfang Arbeitsplätze wegfallen?

Volker Nissen: Automatisierung von Beratungsleistung halten viele Berater heute noch für irrelevant. Wenn man allerdings sieht, wo das Data Mining bereits steht – hier wird Beratungsleistung heute bereits teilweise substituiert. Die Arbeit von Junior-Strategieberatern kann man an dieser Stelle schon fast dadurch ersetzen. Ein erfahrener Senior-Berater wird heute möglicherweise aus den Daten noch etwas mehr herauslesen als ein Tool.

Als nächstes wird es sicherlich bald mehr automatisierte Beratungsangebote geben, wo beispielsweise ein ChatBot dazu dient, Kunden einfache Fragen zu beantworten oder digitale Assessments erste Orientierung hinsichtlich Beratungsbedarf beispielsweise im Projektmanagement bieten.

Consulting Self-Services werden eine wachsende Rolle spielen. Viele Unternehmensberatungen scheuen allerdings noch, Geld und Zeit zu investieren.

Für welche Kunden könnten solche Self-Services interessant sein? Und: Können Unternehmensberatungen damit Geld verdienen? Inwieweit werden sich Geschäftsmodelle ändern beziehungsweise ändern müssen?

Volker Nissen: Unsere Erfahrung ist: Kunden werden auf KI-basierte Beratungsangebote zurückgreifen, wenn sie den Nutzen sehen. Mittelständler etwa, die sich keine Strategieberatung leisten wollen oder können, werden interessiert sein. Abrechnungsmodelle werden sich auf jeden Fall ändern müssen, wenn man technologiebasiert berät.

Gute virtuelle Lösungen, etwa in der Form von Self-Services, werden darüber hinaus als Marketing-Instrument dienen und helfen, klassische Mensch-zu-Mensch-Beratungsleistungen zu verkaufen. Denn bei potenziellen Kunden hat man durch sie einen Fuß in der Tür.

Um beim Beispiel des Mittelständlers zu bleiben: Technologien werden immer komplexer – beispielsweise bei Industrie 4.0. Mit ihrer Einführung und effektiven Nutzung sind die Verantwortlichen dort vielfach überfordert. Beratungsbedarf vor Ort ist insofern da und wird bleiben.

Beratung gilt als ein Geschäft, bei dem es auf persönliches Vertrauen ankommt. Viele Menschen stehen vor diesem Hintergrund dem Gedanken skeptisch gegenüber, Entscheidungen auf der Basis einer Empfehlung durch eine KI zu treffen…

Volker Nissen: Transparenz ist für die Akzeptanz von KI enorm wichtig und im Übrigen auch ein Compliance-Faktor. Von zentraler Bedeutung ist, dass Ergebnisse von digitalen Technologien erklärt werden können. Explainable AI ist hier das Stichwort: Wie und warum ist ein automatisch erstelltes Resultat entstanden? Nachvollziehen können müssen das sowohl die Beratenden selbst als auch am Ende die Kunden.

Das Interview führte Alexander Kolberg.

 

Über die Person

Prof. Dr. Volker Nissen ist seit 2005 Professor für Wirtschaftsinformatik und Fachgebietsleiter Wirtschaftsinformatik für Dienstleistungen an der TU Ilmenau. Zuvor war er langjährig in der IT- und Prozessberatung tätig. In seiner Forschung beschäftigt sich Prof. Nissen mit der digitalen Transformation im Consulting. Er schult und berät hierzu auch Beratungsunternehmen und entwickelt, teils mit Praxispartnern, eigene Softwarelösungen. Andere seiner Forschungsthemen betreffen u.a. die Steigerung... mehr

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