Kolumne von Prof. Dr. Dirk Lippold Warum der richtige Umgang mit der kognitiven Dissonanz so wichtig ist

Vorweg aber noch kurz die betriebswirtschaftlich relevante Sicht auf dieses Phänomen, dessen Namen 1957 vom US-amerikanischen Sozialpsychologen Leon Festinger geprägt wurde.
Danach bezeichnet die kognitive Dissonanz einen als unangenehm empfundenen Gefühlszustand, der vor oder nach wichtigen Entscheidungen auftreten kann.
Die kognitive Dissonanz entsteht sehr oft, wenn die betrachteten Alternativen sowohl Vor- als auch Nachteile haben. Dies führt zu einem kognitiven Konflikt für den Entscheider, wodurch es zu einer Verzögerung oder gar zu einer Nicht-Entscheidung kommen kann.
Bewerber kauft Mantel für Vorstellungsgespräch
Erstes Beispiel: Ein junger Hochschulabsolvent möchte sich nach dem Masterstudium bei einer renommierten Unternehmensberatung bewerben. Die Noten stimmen. Praktische Erfahrungen sind ausreichend vorhanden. Die Chancen stehen gut. Seine Partnerin, mit der er seit zwei Jahren zusammenlebt, bemerkt allerdings ganz beiläufig, dass er unmöglich mit der Nato-grünen Parka zum Vorstellungsgespräch gehen könne. Unser Hochschulabsolvent macht sich kurzerhand auf den Weg, um in einem der Berliner Kaufhäuser einen Mantel zu erwerben. Er nimmt „kurzerhand“ wörtlich und kauft gleich den erstbesten Mantel.
Zu Hause angekommen empfängt ihn seine Partnerin nach einer kurzen Musterung mit den vernichtenden Worten: „Wie siehst Du denn aus?! Was hast Du denn da gekauft.“ Der Gefühlszustand der kognitiven Dissonanz macht sich bemerkbar. Was nun? Zwei grundsätzliche Alternativen bieten sich an: a) Unser sonst so selbstsicherer Master knickt ein und erkennt, dass er so nicht zum Vorstellungsgespräch gehen kann. Er nimmt seine Partnerin an die Hand, tauscht den Mantel um und sucht sich mit ihr einen neuen Mantel aus. b) Unser Master bleibt selbstbewusst, negiert den Geschmack seiner Partnerin und zieht den Mantel trotzdem an. Danach bleibt der Mantel dann – nur einmal getragen – zumeist im Schrank hängen, um seine Partnerin nicht zu verärgern.
Neuer Mitarbeiter sitzt am ersten Tag zwei Stunden im Foyer
Zweites Beispiel: Ein anderer junger Hochschulabsolvent hat bereits mehrere Vorstellungsgespräche erfolgreich durchgeführt. Zwei Angebote, die beide eine ähnliche Dotierung des Einstiegsgehaltes vorsehen, kommen für ihn in die Endauswahl. Der erste Arbeitgeber befindet sich an seinem Wohnort. Beim zweiten Arbeitgeber, dessen Reputation ihm eigentlich besser gefällt, müsste er einen Wohnortwechsel vornehmen. Unser Kandidat entscheidet sich für den Verbleib am Wohnort, also für die ihm bekannte Komfortzone.
Am ersten Tag bei seinem neuen Arbeitgeber muss er allerdings feststellen, dass dieser nicht einmal ein motivierendes Onboarding für seine neuen Mitarbeiter durchführt. Stattdessen musste er am ersten Tag im Foyer zwei Stunden lang Prospekte durchblättern, bevor ihn sein neuer Chef in Empfang nahm. Der Gefühlszustand der kognitiven Dissonanz macht sich auch hier bemerkbar und bleibt seit dem ersten Arbeitstag latent vorhanden. Und zwar so lange, bis eine Veränderung vorgenommen wird.
Gute Führungskräfte können sich entscheiden
Drittes Beispiel: In meinem ziemlich langen Berufsleben habe ich so einige Führungskräfte kennen gelernt. Gute und weniger Gute. Führen heißt Orientierung geben – also den Weg zum Ziel aufzeigen – und in Konfliktsituationen einschreiten. Und natürlich kommen einige weitere Eigenschaften wie Wertschätzung, Respekt, Fairness, Begeisterung für die jeweilige Aufgabe, soziale und kognitive Präsenz hinzu. Die „guten“ Führungskräfte hatten allerdings alle etwas, was die weniger Guten nicht hatten: Sie konnten Entscheidungen treffen. Und das in einem Umfeld, in dem der Gefühlszustand der kognitiven Dissonanz alle anderen Gefühlszustände bei weitem übertraf.
Lähmung im Entscheidungsverhalten
Kommen wir zurück auf das erste Beispiel: Das Ergebnis des Mantelkaufs ist nur ein Beispiel dafür, was es mit Leuten macht, die sich „verkauft“ haben. Wenn sie sich nämlich mehrmals verkauft haben, dann kommt es immer häufiger zum Nichtkauf, d.h. zu keiner Entscheidung, oder zum Rücktritt vom Kauf bzw. zum Umtausch. Nicht wenige „Mantelkäufer“ gehen künftig immer nur mit der ganzen Familie zum Einkauf, weil sie sich alleine nicht (mehr) entscheiden können.
Frust, Selbstzweifel und krankhafte Symptome
Auch ein Rückblick auf das zweite Beispiel kann erkenntnisreich sein: Mitarbeiter, die bereits am ersten Tag oder in der Probezeit merken, dass Sie die falsche Entscheidung getroffen haben, können ihre kognitive Dissonanz nur dann reduzieren bzw. verhindern, wenn sie sich einreden, dass die Situation doch gar nicht so schlimm ist oder wenn sie sich zügig auf die Suche nach einem neuen Arbeitgeber begeben. In dem frustrierenden Zustand zu verharren, führt zu weiterem Frust, Selbstzweifel, krankhafte Symptome und so weiter. Hier gilt der Satz von Hermann Hesse:
„In jedem (neuen) Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben.“
Hauptsache Entscheidungen treffen
Und schließlich noch ein Wort zum letzten Beispiel, in dem es um Top-Manager geht, die sich dadurch auszeichnen, dass sie sich entscheiden können. Der Vorstandvorsitzende eines überaus erfolgreichen DAX-Unternehmens sagte mir einmal: „Bestimmt die Hälfte meiner beruflichen Entscheidungen waren falsch. Die wirklich wichtigen Entscheidungen waren aber – glücklicherweise – zumeist richtig.“ Ergo, nichts ist schlimmer, als sich nicht entscheiden zu können. Aussitzen hat noch keinem Unternehmen weitergeholfen.
Fazit: Unter entscheidungsorientierten Aspekten tritt kognitive Dissonanz dann auf, wenn man eine Entscheidung getroffen hat, die sich anschließend als Fehlentscheidung erweist (1. Beispiel) oder wenn man eine Entscheidung getroffen hat, obwohl die Alternativen ebenfalls attraktiv waren (2. Beispiel). Welche Lösungsmöglichkeiten bieten sich an? Da gibt es die Strategie der Dissonanzauflösung beziehungsweise -reduktion. Dies kann erreicht werden durch Ignorieren, Verdrängen oder Vergessen (sehr leicht möglich im 1. Beispiel) oder indem man der gewählten Entscheidung konsonante Kognitionen hinzufügt (Schönreden der aktuellen Situation im 2. Beispiel). Die Strategie der Dissonanzvermeidung, die auch immer wieder als Lösungsansatz angeführt wird, führt aus meiner Sicht allerdings leicht dazu, dass künftig gar nicht mehr entschieden wird (siehe Beispiel 3 oder auch Beispiel 1 („Familieneinkauf“).
Literatur:
D. Lippold: Personalmanagement im digitalen Wandel. Die Personalmarketing-Gleichung als Prozess- und wertorientierter Handlungsrahmen, 3. Aufl., Berlin/Boston 2019
D. Lippold: Marktorientierte Unternehmensführung und Digitalisierung. Management im digitalen Wandel, 2. Aufl., Berlin/Boston 2021
Über die Person
Prof. Dr. Dirk Lippold ist Dozent an verschiedenen Hochschulen. Seine Lehrtätigkeit umfasst die Gebiete Unternehmensführung, Marketing & Kommunikation, Personal & Organisation, Technologie- und Innovationsmanagement sowie Consulting & Change Management. Zuvor war er viele Jahre in der Software- und Beratungsbranche tätig – zuletzt als Geschäftsführer einer großen internationalen Unternehmensberatung. Auf seinem Blog www.dialog-lippold.de schreibt er über aktuelle betriebswirtschaftliche Themen.
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