Kolumne von Prof. Dr. Dirk Lippold Was würde ein disruptiver Wettbewerber tun, wenn er im Beratungsmarkt durchstarten wollte?

Der digitale Wandel mit Ausprägungen wie Künstliche Intelligenz, Internet der Dinge, Roboter und 3D-Druck ist nicht nur ein zentrales Beratungsthema bei den Kundenunternehmen. Die digitale Transformation hat auch spürbare Auswirkungen auf die Consultingbranche selbst. Hier werden die Beratenden zu Vordenkern in eigener Sache. Consultants müssen sich fragen, ob die klassischen Geschäftsmodelle des „People Business“ noch weiter funktionieren.

Geschäftsmann und Roboter (Bild: picture alliance / Westend61 | MAGIC UNICORN)

Künstliche Intelligenz ist nicht nur ein Beratungsthema auf Kundenseite, sondern könnte auch die Consultingbranche maßgeblich verändern. (Bild: picture alliance / Westend61 | MAGIC UNICORN)

Wenn man dem Beratungsforscher Thomas Deelmann in seinem grundlegenden Beitrag „Does AI matter“ folgt, so gibt es aus Sicht des Beraters drei Perspektiven beziehungsweise Anwendungsfelder, sich mit der digitalen Transformation im Allgemeinen und mit Künstlicher Intelligenz im Besonderen zu befassen:

  1. KI als Beratungsthema etablieren,
  2. KI zur Verbesserung der beratungsinternen Effizienz einsetzen und
  3. KI zur Veränderung des Geschäftsmodells des Beraters zu nutzen.

Es sollen an dieser Stelle aber nicht die vielseitigen Anwendungsfelder der drei Perspektiven beschrieben werden. Siehe dazu die sehr übersichtlicher Darstellung in „Does AI matter“.

Mir stellt sich vielmehr die Frage, ob es sich beim Einstieg in diese Bereiche wirklich um eine Disruption oder doch eher um eine (ganz normale) evolutionäre Entwicklung handelt.

Disruption = revolutionäre Marktveränderung

Disruption bezeichnet eine revolutionäre Veränderung des Marktes, indem alte Produkte oder Prozesse (typischerweise) vollständig von neuen und besseren Produkten/Prozessen ersetzt werden. Der Begriff geht zurück auf Clayton M. Christensen, der in „The Innovator’s Dilemma“ die disruptive von der evolutionären Innovation abgegrenzt hat.

Evolution verbessert Bestehendes

Demgegenüber verbessern evolutionäre Innovationen etwas Bestehendes (Produkte, Prozesse, etc.) stetig entlang der Kundennutzen-Kurve (rote Gerade in der Abbildung 1). Ein Produkt wird also stetig erweitert und verbessert, sodass sich der Nutzen für den Kunden erhöht. Anbieter und Nachfrager sehen darin einen Fortschritt, der – sobald weitere Anbieter folgen – zu einer positiven Entwicklung des Marktes führt. Allerdings wird diese iterative Verbesserung typischerweise auch dann noch weitergeführt, wenn der Markt diese Verbesserung gar nicht mehr braucht.

Disruptiv sind dagegen jene potenziellen Innovationen, die nicht sofort Fortschritt bewirken, da sie sich nicht an einer bestehenden Nutzenkurve orientieren. Neue Produkte oder Leistungen, die eine disruptive Innovation (blaue Gerade in der Abbildung 1) darstellen, sind beim Launch oft schlechter als das Marktangebot. Da sie allerdings vom gängigen Kundennutzen abweichen und Vorteile aufweisen, die von den meisten Anbietern und Nachfragern noch nicht als solche angesehen werden, eröffnen sie einen neuen Markt.

Zudem werden diese neuen Entwicklungen anfänglich von den etablierten und marktbeherrschenden Unternehmen nicht richtig eingeschätzt oder sogar verhindert, eben weil sie den eigenen Markt gefährden.

Der neue Markt wird aber bei Erfolg der disruptiven Innovation dem „alten“ Markt die Teilnehmenden entziehen, beziehungsweise Verbraucher und Nachfrager aus verschiedenen Märkten in sich vereinen.

Der disruptive Alleskönner

Bekanntestes Beispiel hierfür ist der Smartphone-Markt, der durch Apple begründet wurde. Das Smartphone war von Anfang an mehr als nur ein Handy. Videos gucken, Musik hören, Fotos schießen, in einer fremden Stadt navigieren und im Internet surfen. Damit vereinigte der Alleskönner Millionen Verbraucher aus den zum Teil gesättigten Märkten Handy, Notebook, Laptop, MP3-Player und Digitalkamera sowie auch mobile Spielekonsole in sich.

Der Umkehrschluss ist folglich, dass die Anbieter der bestehenden Märkte ihrer Zielgruppen beraubt werden und so vor einem ausgehöhlten Geschäftsmodell stehen, obwohl sie mit vermeintlich besseren Produkten auftreten können. Damit hat das Smartphone in zweifacher Hinsicht eine besondere Rolle übernommen. Zum einen treibt es dem Markt durch die Vernetzung zu anderen Geräten zu völlig neuen Nutzungsmöglichkeiten an. Zum anderen löscht es Produkte aus, die für sich genommen den Lebenszyklus bei Weitem noch nicht überschritten hatten (siehe Abbildung 2).

Bemerkenswert ist übrigens, dass nahezu alle bahnbrechenden Technologiesprünge, wie zum Beispiel die Entwicklung von der Schreibmaschine zur Textverarbeitung am Computer oder von der Petroleumlampe zum elektrischen Licht, von den Branchenführern verpasst wurden.

Das Prinzip disruptiver Innovationen

Christensen weist in diesem Zusammenhang auf ein Prinzip disruptiver Innovationen hin, das führende und marktbeherrschende Unternehmen zu Fall bringen und bestehende Märkte neu ordnen können. Das Prinzip bezieht sich auch darauf, dass sich Technologien schneller entwickeln als Kundenbedürfnisse.

Disruptive Innovationen setzen zwar unterhalb der Marktbedürfnisse an, sodass sie zunächst nicht als Konkurrenz wahrgenommen werden. Bei fortlaufender Entwicklung erkennen Kunden jedoch, dass die disruptive Innovation mehr den konkreten Bedürfnissen entspricht und auch noch günstiger ist. Das Prinzip ist wichtig, um die Veränderungskraft von Apple, Amazon oder auch Tesla zu verstehen.

Disruptive Beispiele gibt es in jeder Branche

Beispiele dafür, wie Unternehmen digitale Technologien einsetzen, um ihre Unternehmen zu transformieren, können in fast jeder Branche gefunden werden. Abbildung 3 zeigt einige Beispiele, die meine Studierenden im Rahmen meiner Vorlesung und Übung „Consulting & Change Management“ an der Humboldt-Universität erarbeitet haben. Sie geben ein Gefühl dafür, in welche Richtung sich Märkte im Zuge von disruptiven Innovationen entwickelt haben.

Kommen wir zurück zur Ausgangsfrage: Disruption oder Evolution im Beratungsmarkt?

Sicherlich sind die Anwendungsfelder 1 und 2 – also KI als Beratungsthema und KI zur internen Effizienzsteigerung – keinesfalls als disruptive Innovationen im Beratungsmarkt anzusehen. Es handelt sich um zeitgemäße evolutionäre Entwicklungen, die auf bestehende Prozesse aufsetzen.

KI-Lösungen als Consulting-Ersatz

Anders sieht es im Anwendungsfall 3 – KI-Lösungen als Consultant-Substitut – aus. Wenn hier auch keine disruptive Innovation in der Größenordnung eines Smartphones zu erwarten ist, so kann die digitale Transformation und hier besonders die Anwendung der Künstlichen Intelligenz durchaus Potenziale eröffnen, die bei Erfolg dem „alten“ Markt die Teilnehmer entziehen können. Wie gesagt, ein Kennzeichen der Disruption ist, dass die neuen Entwicklungen anfänglich von den etablierten und marktbeherrschenden Unternehmen nicht richtig eingeschätzt oder sogar verhindert wird, eben weil sie den eigenen Markt gefährden. Insofern könnte nicht nur aus diesem Grunde einiges für eine Disruption im Beratungsmarkt sprechen. Die „Ask me anything“-Funktionalität könnte hierbei eine Schlüsselrolle spielen.

Quellen und vertiefende Literatur:

D. Lippold: Digital (mit)denken – analog lenken. Eine Roadmap durch die digitale Transformation, Berlin/Boston 2020.
D. Lippold: Die Unternehmensberatung. Von der strategischen Konzeption zur praktischen Umsetzung, 4. Aufl., Berlin/Boston 2022.

 

Über die Person

Prof. Dr. Dirk Lippold ist Dozent an verschiedenen Hochschulen. Seine Lehrtätigkeit umfasst die Gebiete Unternehmensführung, Marketing & Kommunikation, Personal & Organisation, Technologie- und Innovationsmanagement sowie Consulting & Change Management. Zuvor war er viele Jahre in der Software- und Beratungsbranche tätig – zuletzt als Geschäftsführer einer großen internationalen Unternehmensberatung. Auf seinem Blog www.dialog-lippold.de schreibt er über aktuelle betriebswirtschaftliche Themen.

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