Corona – Deutschlands digitales Desaster - Interview mit Henrik Tesch "Wir verspielen Stück für Stück internationale Führungspositionen"

Dass Deutschland hinsichtlich der Digitalisierung im Ländervergleich nicht um die vorderen Plätze kämpft, war auch schon vor der Pandemie bekannt. Doch wie groß unser Digitalisierungsrückstand tatsächlich ist, brachte erst COVID-19 zum Vorschein. Henrik Tesch, Mitautor des Buches "Corona – Deutschlands digitales Desaster", deckt im Interview auf, wie es aktuell in Sachen Digitalisierung um Deutschland bestellt ist.

Henrik Tesch stellt nicht nur der Corona-Warnapp einen negativen Befund aus. Die Corona-Pandemie legt die digitalen Probleme Deutschlands schonungslos offen, so sein Urteil. (Bild:picture alliance / Goldmann | Goldmann)

Deutschland digitales Desaster – die Pandemie legte die Schwächen in der Digitalisierung in Deutschland schonungslos offen. Warum war das Land offensichtlich so schlecht vorbereitet? Wie ist das zu erklären?

Henrik Tesch: Hier greifen sehr viele Ursachen ineinander. Ich nenne jetzt mal nur ein einige davon. Mit der Auflösung des Bundesgesundheitsamtes Anfang der 2000er Jahre fehlt eine zentrale Struktur im öffentlichen Gesundheitswesen in unserem Land. Die etwas mehr als 400 Gesundheitsämter in Deutschland waren - und sind teilweise bis heute - nicht vernetzt. Sie sind Teil der kommunalen Verwaltung, leiden unter einer mangelhaften technischen und personellen Ausstattung.

Es gab in den letzten Jahren tatsächlich immer wieder Übungen und Planspiele, deren Szenarien der derzeitigen Pandemie erschreckend ähnelten und viele Schwachstellen aufzeigten. Und trotz dessen wurden keine praktischen Schlussfolgerungen gezogen.

Die öffentlichen Verwaltungen hängen bei der Digitalisierung im internationalen Maßstab Jahrzehnte hinterher. Viele haben sich hinter dem Volkszählungsurteil von 1983 versteckt und deshalb den Sprung ins digitale Datenzeitalter verpasst. Datenschutz ist ohne Zweifel wichtig, aber er dient schon sehr lange als Ausrede für fehlende Fortschritte.

In der Wirtschaft, die sich permanent im internationalen Wettbewerb beweisen muss, diskutiert heute niemand mehr über die Notwendigkeit von Digitalisierung. Und der Druck fehlt im öffentlichen Bereich. Deshalb braucht es in dieser Frage politische Führung und Prioritätensetzung. Diese fehlt seit Jahrzehnten.

Wie ist der Stand heute nach über 20 Monaten Corona zu bewerten? In welchen Bereichen konnte aufgeholt werden? Wo ist der Nachholbedarf nach wie vor groß?

Henrik Tesch: Wir befinden uns ja gerade in der vierten Corona-Welle. Auch nach 18 Krisen-Monaten erreichen uns Berichte von Gesundheitsämtern, die nach wie vor papierbasiert Infektionsketten verfolgen und regelmäßig daran scheitern. Betroffene Einrichtungen tauschen Untersuchungsergebnisse und Statistiken immer noch per Faxgerät untereinander aus. Die dadurch entstehenden Medienbrüche sind die häufigste Ursache von Fehlern. Fast täglich werden Zahlen zu Infizierten und Geimpften mit der Einschränkung veröffentlicht, dass die Daten wegen fehlender Meldungen nicht vollständig seien. Wie sollen auf dieser Basis wichtige Entscheidungen getroffen werden? In den Schulen hat sich die sächliche Ausstattung mit Laptops etc. zwar verbessert, aber grundlegende Konzepte für digitalen Unterricht fehlen immer noch.

Mein Fazit ist, dass sich zu wenig getan hat. Aktuelle Umfragen zeigen übrigens auch eine große Skepsis der Bevölkerung, dass es unter einer künftigen Ampelkoalition signifikant vorwärtsgeht.

Verantwortungsdiffusion im Föderalismus – Inwiefern ist der Föderalismus Ursache der Digitalisierungslücke?

Henrik Tesch: Wie oft haben wir während der bisherigen Pandemie gesehen, dass Bund und Länder nicht an einem Strang gezogen haben? Im Krisenstab der Bundesregierung saßen keine Ländervertreter. Auf den Ministerpräsidentenkonferenzen mit der Kanzlerin konnte man sich oft nur auf den kleinesten gemeinsamen Nenner verständigen. Und selbst diese Kompromisse waren oft nur wenige Stunden nach Tagungsende Makulatur.

'Flickenteppich' war nicht umsonst eines der Unworte von 2021.

Ich sag nur, sechzehn unterschiedliche Systeme für die Gewährung der Soforthilfen oder verschiedene Steuermechanismen für die Vergabe der Impftermine. Einig war man sich nur, wenn es um die nicht funktionierenden Lernplattformen für die Schüler ging. Diese Misere setzt sich auf kommunaler Ebene fort.

Mit dem Onlinezugangsgesetz (OZG) versucht man seit Jahren, diese Probleme zu lösen. Es ist aber fraglich, ob es im vorgegebenen Zeitrahmen bis Ende 2022 gelingt, die vorgesehenen 574 Anwendungen zu entwickeln und bundesweit über einheitliche Plattformen anzubieten.

Woran macht sich die von Ihnen aufgezeigte „ausgeprägte Innovationsfeindlichkeit“ bemerkbar?

Henrik Tesch: Deutschland ist leider schon lange nicht mehr DAS Land der Erfinder und Ingenieure. Die Zahl von Patenten geht dramatisch zurück. Auch Unternehmensgründungen im Technologiebereich sind rückläufig.

Statt zunächst die Chancen von Technologien zu sehen, sind wir mittlerweile Weltmeister im Aufspüren von Risiken geworden zu sein.

Nehmen wir das Beispiel künstliche Intelligenz. Über Jahrzehnte und viele technologische Krisen hinweg war Deutschland führend in diesem Bereich. Das Deutsche Forschungszentrum für künstliche Intelligenz (DFKI) beherbergt über 1.000 Forschende. In den letzten fünf bis sieben Jahren geht beim Einsatz von KI international die Post ab.

Während die Technologien in den USA oder Südostasien praktisch eingesetzt werden, wird die Liste der bei uns diskutierten Risiken immer länger: Es könnten Profile gebildet werden oder es könnte eine systematische Benachteiligung bestimmter Gruppen geben. Selbst die Auswertung von Röntgenbildern Verstorbener, um beispielweise Brustkrebs zu erkennen, fällt dieser Denkweise zum Opfer. Wir verspielen Stück für Stück internationale Führungspositionen. Ähnlich ist es bei Biotechnologien, im Bereich der Atomkraft, neuen Züchtungsmethoden in der Landwirtschaft usw. Das verbaut uns nicht nur Perspektiven für Wirtschaftswachstum und Wohlstand, sondern vertreibt Fachkräfte systematisch ins Ausland.

Sie nennen Deutschland ein Entwicklungsland im Digitalbereich. Aus welchen Ländern wäre Entwicklungshilfe zu bekommen? Gibt es auch in Deutschland Städte oder Kommunen, die als Vorbild dienen können?

Henrik Tesch: Wenn man beim Vergleich digitaler Verwaltungsdienste in der Europäischen Union auf dem 21. Platz liegt, kann faktisch jedes Land Vorbild für uns sein. Immer wieder hervorgehoben wird Estland. Dort werden tatsächlich alle Verwaltungsdienstleistungen online angeboten. Alle nordeuropäischen Länder sind ebenfalls weit fortgeschritten. Spanien und die Niederlande spielen auch ganz vorn mit.

Bei den Recherchen zu unserem Buch ist uns beispielsweise das Gesundheitsamt in Köln besonders positiv aufgefallen. Dort hat man gleich zu Beginn der Krise innerhalb weniger Tage digitale Lösungen zur Kontaktnachverfolgung und zur Visualisierung des Pandemiegeschehens entwickelt. Dafür wurden die eigenen Kapazitäten durch die von Start-ups und lokalen Forschungsinstituten ergänzt. Das Ergebnis ist eine Mortalitätsrate, die um die Hälfte geringer ausfällt. Konsequente Digitalisierung hat hier nachweislich viele Menschenleben gerettet.

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Wenn Sie drei Dinge in Deutschland verändern könnten, um die Digitalisierung voranzubringen: Was würden Sie in die Wege leiten?

Henrik Tesch: Zum einen brauchen wir auf Bundesebene endlich politische Führung bei der Umsetzung. Dafür muss aber kein eigenes Digitalisierungsministerium geschaffen werden.

Mehr Bürokratie, um den Bürokratieabbau voranzutreiben – das hat bisher noch nie funktioniert.

Jedes Ressort muss Verantwortung tragen und braucht eine messbare Strategie.

Zweitens wird die Digitalisierung außerdem nur gelingen, wenn wir auch gleichzeitig die Verwaltung modernisieren. Der Sinn der Digitalisierung besteht nicht in der 1:1 digitalen Abbildung eines analogen Prozesses. Vielmehr müssen alle Aufgaben und Prozesse auf den Prüfstand, bevor man programmiert.

Und drittens, es wird gern auf das Onlinezugangsgesetz verwiesen. Das derzeitige OZG ist Augenwischerei. Es bringt wenig, wenn der Bürger seinen Antrag zwar online stellen kann, aber alle Bearbeitungsprozesse in den Verwaltungen dann wieder papierbasiert laufen. Mehr sieht das OZG nämlich derzeit nicht vor. Wir brauchen eine konsequente Ende-zu-Ende-Digitalisierung.

Deutschland gilt als einer der Vorreiter beim Datenschutz. Inwieweit bremst die DSGVO Unternehmen, die digital durchstarten möchten?

Henrik Tesch: Daten werden oft als das Öl der Informationsgesellschaft bezeichnet. Daten, die nur gesammelt und gespeichert werden, haben keinen Nutzen. Erst wenn sie verarbeitet und aus ihnen Informationen generiert werden, bringen sie Ertrag. Und sie nutzen sich dabei nicht ab. Das widerspricht diametral dem Prinzip der Datensparsamkeit, dem wir seit Jahrzehnten huldigen. Daten bilden zudem eine wichtige Grundlage für weitreichende politische und wirtschaftliche Entscheidungen, wie beispielsweise den Lockdown.

Die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung wird nicht gelingen, wenn wir unser Verhältnis zu Sammeln und zur Nutzung von Daten nicht grundsätzlich ändern. Das bedeutet nicht, dass es nicht auch weiterhin besonders schutzbedürftige Daten gibt. Dieser Kreis darf jedoch nicht willkürlich auf jede Form von Daten erweitert werden.

Wandeln muss sich auch die Arbeit und die Rolle der Datenschutzbeauftragten. Mit der DSGVO hatte man sich erhofft, Klarheit und Einheitlichkeit in Datenschutzfragen über ganz Europa zu bekommen. Das Gegenteil ist der Fall:

Nie war die Kakophonie der Datenschützer größer als während der Pandemie.

War die Androhung von Geldstrafen für Lehrer, die Webex, Teams & Co nutzen, letztlich so hilfreich? Oder etwa das Verbot, Patientendaten per Fax („nur ein Brief ist sicher“) zu übermitteln? Ich wünsche mir Datenschützer und -schützerinnen, denen es nicht um die öffentliche Profilierung und Bestrafung geht, sondern um die konstruktive Aufklärung und Begleitung von Projekten.

Das im Oktober erschienene Buch von Henrik Tesch und Hartwig von Saß mit dem Titel "Corona – Deutschlands digitales Desaster". (Bild: Henrik Tesch)

Deutschland hat gewählt, kurz nach dem Sie Ihr Buch beendet haben. Was erwarten Sie von der Ampel in Bezug auf einen Digitalisierungsschub? Löst die Ampel jetzt die Digitalisierungsbremse?

Henrik Tesch: Schon vor den Wahlen erwarteten nur 19 Prozent der Befragten einer CIVEY-Umfrage einen wirklichen Digitalisierungsschub. 45 Prozent gingen davon aus, dass weitergearbeitet wird wie bisher. 40 Prozent meinten, dass keine ausreichenden finanziellen Mittel für die Digitalisierung zur Verfügung stehen würden.

Diese Skepsis hat sich bis heute nicht gelöst. Die Mehrheit der Befragten (47 Prozent) befürchtet nach wie vor, dass die künftige Ampelkoalition bei der Umsetzung einer wirksamen Digitalisierungsstrategie scheitern wird. Nur etwas mehr als ein Drittel sind in dieser Frage optimistisch. Neutral eingestellt ist ca. ein Sechstel.

Schuld an dem Misstrauen sind vor allem die unterschiedlichen Zielsetzungen und Umsetzungsvorstellungen der Koalitionsakteur. Viele sind der Meinung, dass außerdem das notwendige Personal und die erforderlichen finanziellen Mittel fehlen.

Genaueres wird man aber erst nach Abschluss der Verhandlungen sehen.

Der Markt der IT-Beratungen läuft so gut wie nie. Überall laufen Digitalisierungsprojekte, die durch externe Kräfte unterstützt werden. Welche Rolle sollte aus Ihrer Sicht IT-Beratungen beim „massiven digitalen Ruck“ spielen?

Henrik Tesch: Die Verwaltungen allein werden die Digitalisierung nicht stemmen können. Dazu fehlen ihnen Know-how und die notwendigen Fachleute. Das ist die große Chance der Wirtschaft, hier Unterstützung zu gewähren und auch die eigenen Erfahrungen in die Diskussion einzubringen. Vorausgesetzt, die Verwaltungen lassen das zu. Hier kommt es wieder auf die politische Führung an. Verwaltungen sind gut beraten, auf die Erfahrungen der Wirtschaft aufzusetzen. Denn es reicht nicht aus, wenn nur „Behörden mit Behörden“ reden.

Zu Henrik Tesch

Henrik Tesch ist Politikwissenschaftler, Regierungsdirektor und Co-Autor des kürzlich erschienen Buches "Corona – Deutschlands digitales Desaster". Er begann seine berufliche Laufbahn Anfang der 1990er Jahre in der öffentlichen Verwaltung. Ab 1999 verantwortete er die Regierungskontakte und politische Kommunikation bei Cisco und später bei Microsoft. Bis 2016 leitete er die Berliner Niederlassung von Microsoft. Heute arbeitet er als selbständiger Politikberater in Berlin.

 

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