Versicherungswirtschaft im Wandel - aktuelle Herausforderungen
Von Horst Müller-Peters
Erhöhter Wettbewerbsdruck: Lange wirkte die Branche im Vergleich zu anderen Industrien fast wie eine Insel der Glückseligen. Langfristige Vertragsbeziehungen, passive Kunden, geringe Preistransparenz und etablierte Vertriebsstrukturen bescherten den meisten Versicherern eine rentable und sichere Existenz. Prozessoptimierung, Automatisierung und Restrukturierung fanden zwar ebenso statt wie Fusionen und Übernahmen, ohne aber die Unternehmenslandschaft grundsätzlich zu bereinigen. Selbst mehrere Finanzkrisen konnten den allermeisten Anbietern nichts anhaben, so dass auch heute noch – ungewöhnlich für einen "reifen Markt" – eine große Anzahl von großen, mittleren und kleinen Anbietern mit oft wenig effizienten Strukturen und ohne ausgeprägte Spezialisierung am Markt tätig ist.
Gestiegene Transparenz (z.B. durch Vergleichsportale), erhöhte Preissensibilität der Kunden (sowohl im Privat- als auch im Gewerbegeschäft), und der Eintritt von neuen, teils branchenfremden Anbietern (z.B. Kfz-Herstellern) haben den Wettbewerbsdruck nochmals deutlich erhöht. Zugleich fallen auf Grund der Niedrigzinsphase die traditionell üppigen Gewinne aus den als Rückstellung "geparkten" Gelder weg, die in der Vergangenheit selbst dann Überschüsse gewährleisteten, wenn das eigentliche versicherungstechnische Geschäft längst defizitär war.
Die Assekuranz steht damit vor einer weiteren, massiven Rationalisierungsrunde. Eine Feststellung, die sich ähnlich sicherlich auch für zahlreiche andere Branchen treffen lässt. Der Zeitpunkt ist für die Branche allerdings so ungünstig wie selten zuvor, da weitere Rahmenfaktoren ebenfalls große, kostenintensive und Managementkapazität absorbierende Herausforderungen stellen:
Niedrigzinsumfeld: Wie schon erwähnt, bricht mit weitgehendem Wegfall der Kapitalerträge eine wesentliche Einnahmequelle der Branche weg. So müssen sich in Zukunft z.B. die Kfz-Versicherung, die Industrieversicherung oder die Haftpflichtversicherung tatsächlich aus der Differenz zwischen Prämieneinnahmen einerseits und Kosten (Schäden plus Verwaltung) andererseits finanzieren. Anfallende Defizite können nicht mehr aus den Kapitalerträgen ausgeglichen werden. Noch schwerwiegender sind die Auswirkungen auf die Personenversicherung: Wurde Lebensversicherten in der Vergangenheit üppige Mindestrenditen garantiert und konnten mit dem Alter steigende Krankenversicherungsbeiträge durch rentabel angelegte Altersrückstellungen abgefedert werden, scheint heute bereits die Zusage des bloßen Kapitalerhalts ein gewagtes Versprechen. Damit stehen wesentliche Geschäftsfelder der Versicherungsbranche zur Disposition: Erst vor wenigen Tagen haben mit der Allianz und der ERGO zwei marktführende Anbieter das Ende der klassischen Lebensversicherung deklamiert - einem langjährigen und aufgrund der Langfristigkeit der Verträge hochgradig stabilisierendem Standbein der Branche, und auch die Forderung mancher Politiker nach Abschaffung der privaten Krankenvollversicherung erhält durch die ungünstige Kostensituation weiteren Rückenwind.
Neue Regulatorik: Nachdem die Branche vor 20 Jahren eine Phase der Deregulierung durchlief, hat sich das Blatt längst wieder gewendet. Strenge Eigenkapitalvorschriften im Rahmen von Solvency II, verschärfte Auflagen an die Anlage von Kundengelder, neue Pflichten für die Beratung, Dokumentation und Qualifizierung im Vertrieb, die Umsetzung von Complianceregeln oder verschärfte Auflagen für den Vertrieb von Finanzprodukten sind noch nicht ganz verdaut, da stehen die nächsten umfassenden Regelwerke wie z.B. die erweiterte europäische Vertriebsrichtlinie IDD vor der Tür, halten die Organisation in Atem und treiben die Kostenquoten nach oben. Daneben stellt die Politik regelmäßig Eckpfeiler der Branche wie die privaten Kranken(voll)versicherung oder die derzeit vorherrschende Finanzierungsform des Vertriebs durch Provisionen zur Diskussion – Existenzfragen für jeweils große Mitspieler der Branche.
Digitalisierung: Der Megatrend der Digitalisierung macht natürlich auch vor der Versicherung nicht halt. Ganz im Gegenteil: Gerade die Versicherung als abstraktes, nicht-physisches Produkt ist in höchstem Maße digitalisierungs-affin. Das gilt gleichermaßen für Rationalisierungspotenziale im Betrieb, für neue – bessere oder günstigere - Wege im Vertrieb sowie die laufende Gestaltung der Kundenbeziehung. Das gilt aber auch für den eigentlichen Kern des Versicherns, nämlich die Erfassung, Prognose und dann wahlweise Minderung oder Übernahme von Risiken. In einer Welt der allumfassenden Vernetzung ergeben sich hier vollkommen neue Potenziale. Die aktuellen Stichworte Telematiktarife (in der Kfz-Versicherung international schon etabliert und nun auch bei den marktführenden Anbietern in Deutschland) oder Vitality (verhaltensabhängige Anreize in der Krankenversicherung) bilden hier wohl erst die Vorhut dessen, was Vernetzung und Big Data auf der Angebotsseite ändern wird. Dabei können auch ganze Sparten ihr Gesicht verändern (z.B. Hersteller- statt Halterhaftung beim selbstfahrenden Auto), umsatzträchtige Risiken an Relevanz verlieren (rückgehende Unfallhäufigkeit im Verkehr, bessere Überwachung und Steuerung in der Industrie) oder neu hinzukommen (vor allem die sogenannten Cyber-Risiken).
Alles zusammen bietet nicht nur zahlreiche neue Geschäftschancen für die bestehenden Anbieter, sondern ruft auch neue Akteure auf die "fette Weide" des Geschäfts mit dem Risiko. Sei es in Form von innovativen Neugründungen (den sogenannten InsureTechs), branchenfremden Anbietern mit engem Kontakt zu den Kunden oder besserem Zugriff auf die anfallenden Daten (wie der Automobilindustrie) oder den Giganten der Internetökonomie. Das derzeit billig verfügbare Kapital tut ein Übriges, Innovation zu beschleunigen und möglicherweise nicht nur "evolutionäre", stufenweise Entwicklungen zu finanzieren, sondern auch Startups oder Quereinsteiger mit "revolutionären", disruptiven Ansätze mit einer üppiger Finanzausstattung in den Markt zu schicken.
Diese Welle der Innovation trifft nun auf bestehende Anbieter, die oft genug noch nicht einmal ihre traditionelle Informationstechnik im Griff haben. Und was bei denen die oft veralteten und isoliert nebeneinander her arbeitenden IT-Systeme sowie die zwar großen, aber höchst lückenhaften Datenbestände noch nicht vereiteln, das erledigen dann verteilte Zuständigkeiten, mangelnde Zugriffsrechte oder letztendlich der Datenschutz. Zudem ist die Versicherungswirtschaft bislang geprägt durch eine zwar langfristige und solide, aber auch innovationsfeindliche Unternehmenskultur. Beides – IT und Kultur – bedingt einen großen Wettbewerbsvorteil für Quereinsteieger und innovative "Neustarter" auf der grünen Wiese.
Demographische Entwicklung: Schließlich schwebt über dem Ganzen der demographische Faktor. Dieser bedingt in der Personenversicherung zwar neue Bedarfe und damit Marktchancen, zugleich aber auch enorme Herausforderungen an deren langfristige Finanzierung. Im gleichen Zuge schrumpft aber die Zahl möglicher Neukunden im mittleren und jungen Alterssegment – in dem traditionell die meisten Produkte neu gekauft werden. Und schließlich resultiert, ungeachtet aller laufenden Personaleinsparungen, ein Nachwuchsproblem auf der HR-Seite. Versicherung – mit einem traditionell problematischen Image behaftet – steht nicht gerade oben auf der Berufswunsch-Liste der Talente von morgen. Und die oft sehr klassischen, hierarchischen Strukturen der tätigen Unternehmen entsprechen nicht dem Arbeitsumfeld, das die Generation Y zu faszinieren vermag. Hier ist nicht nur ein Image- sondern vor allem auch wieder ein Kulturwandel gefragt.

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